Die Gefahr der einen einzigen Geschichte
-
0:00 - 0:02Ich bin eine Geschichtenerzählerin.
-
0:02 - 0:05Und ich möchte Ihnen ein paar
persönliche Geschichten erzählen, -
0:05 - 0:10über das, was ich "Die Gefahr
der einzigen Geschichte" nenne. -
0:10 - 0:14Ich bin auf einem Universitätsgelände
im Osten Nigerias aufgewachsen. -
0:14 - 0:17Meine Mutter sagt, dass ich mit 2 Jahren
zu lesen angefangen habe; -
0:17 - 0:22ich denke allerdings, dass vier
wohl eher der Wahrheit entspricht. -
0:22 - 0:24Ich fing also früh an zu lesen.
-
0:24 - 0:27Und was ich las, waren britische
und amerikanische Kinderbücher. -
0:27 - 0:30Ich fing auch früh an zu schreiben.
-
0:30 - 0:34Und als ich, mit etwa 7 Jahren,
anfing zu schreiben, -
0:34 - 0:36mit Bleistift geschriebene Geschichten
mit Buntstiftbildern, -
0:36 - 0:39die meine arme Mutter
gezwungen war zu lesen, -
0:39 - 0:43schrieb ich genau die Art
von Geschichten, die ich las. -
0:43 - 0:48All meine Charaktere
waren weiß und blauäugig. -
0:48 - 0:50Sie spielten im Schnee.
-
0:50 - 0:52Sie aßen Äpfel.
-
0:52 - 0:54(Gelächter)
-
0:54 - 0:56Und sie sprachen viel über das Wetter,
-
0:56 - 0:58wie schön es war,
dass die Sonne herauskam. -
0:58 - 1:00(Gelächter)
-
1:00 - 1:03Nun, und dabei lebte ich in Nigeria.
-
1:03 - 1:07Ich war niemals außerhalb
Nigerias gewesen. -
1:07 - 1:10Wir hatten keinen Schnee. Wir aßen Mangos.
-
1:10 - 1:12Und wir sprachen niemals über das Wetter,
-
1:12 - 1:14weil das nicht nötig war.
-
1:14 - 1:17Meine Charaktere tranken
auch viel Ingwer-Limonade, -
1:17 - 1:19weil die Menschen
in den britischen Büchern, die ich las, -
1:19 - 1:21Ingwerlimonade tranken.
-
1:21 - 1:24Es spielte keine Rolle, dass ich nicht wusste,
was Ingwer-Limonade ist. -
1:24 - 1:25(Gelächter)
-
1:25 - 1:28Und noch jahrelang hatte ich
das tiefe Verlangen, -
1:28 - 1:30Ingwer-Limonade zu probieren.
-
1:30 - 1:32Aber das ist eine andere Geschichte.
-
1:32 - 1:34Ich denke, diese Geschichte zeigt,
-
1:34 - 1:37wie beeinflussbar und schutzlos wir
-
1:37 - 1:39angesichts einer Geschichte sind,
-
1:39 - 1:41besonders als Kinder.
-
1:41 - 1:43Da alles, was ich
gelesen hatte, Bücher waren, -
1:43 - 1:45in denen die Personen Ausländer waren,
-
1:45 - 1:47war ich überzeugt, dass Bücher,
-
1:47 - 1:50von Natur aus,
Ausländer enthalten mussten. -
1:50 - 1:52Und sie mussten von Dingen handeln,
-
1:52 - 1:55mit denen ich mich
nicht identifizieren konnte. -
1:55 - 1:59Nun, dies änderte sich,
als ich afrikanische Bücher entdeckte. -
1:59 - 2:01Es gab nicht viele davon.
-
2:01 - 2:03Sie waren nicht so einfach zu finden
wie ausländische Bücher. -
2:03 - 2:07Aber durch Autoren wie
Chinua Achebe und Camara Laye, -
2:07 - 2:09wandelte sich meine Wahrnehmung
-
2:09 - 2:11von Literatur.
-
2:11 - 2:13Ich erkannte, dass Menschen wie ich,
-
2:13 - 2:15Mädchen mit schokoladenbrauner Haut,
-
2:15 - 2:18deren krause Haare sich
zu keinem Pferdeschwanz binden ließen, -
2:18 - 2:20auch in der Literatur existieren konnten.
-
2:20 - 2:24Ich begann über Dinge zu schreiben, die ich verstand.
-
2:24 - 2:28Nun, ich liebte die amerikanischen
und britischen Bücher, die ich las. -
2:28 - 2:32Sie regten meine Fantasie an.
Sie eröffneten mir neue Welten. -
2:32 - 2:34Aber die unbeabsichtigte Folge davon war,
-
2:34 - 2:36dass ich nicht wusste,
dass Menschen wie ich -
2:36 - 2:38in der Literatur existieren konnten.
-
2:38 - 2:42Die Entdeckung afrikanischer Autoren
machte mit mir folgendes: -
2:42 - 2:45Sie rettete mich davor,
nur eine einzige Geschichte zu kennen, -
2:45 - 2:47über die Natur von Büchern.
-
2:47 - 2:50Ich stamme aus einer konventionellen,
nigerianischen Familie der Mittelklasse. -
2:50 - 2:52Mein Vater war Hochschullehrer.
-
2:52 - 2:55Meine Mutter war Verwaltungsangestellte.
-
2:55 - 2:58Und bei uns lebten, wie es die Norm war,
-
2:58 - 3:03Bedienstete, die oft aus den umliegenden Dörfern kamen.
-
3:03 - 3:07In dem Jahr, in dem ich acht wurde, bekamen wir einen neuen Hausdiener.
-
3:07 - 3:09Sein Name war Fide.
-
3:09 - 3:12Das einzige, was meine Mutter uns über ihn erzählte,
-
3:12 - 3:15war, dass seine Familie sehr arm war.
-
3:15 - 3:17Meine Mutter schickte Süßkartoffeln und Reis
-
3:17 - 3:20und unsere alten Kleider zu seiner Familie.
-
3:20 - 3:22Und wenn ich mein Abendessen nicht aufaß, sagte meine Mutter:
-
3:22 - 3:27"Iss dein Essen auf! Ist dir nicht klar, dass Menschen wie die Familie von Fide nichts haben."
-
3:27 - 3:31Deshalb hatte ich großes Mitleid mit Fides Familie.
-
3:31 - 3:34Dann, an einem Samstag, besuchten wir sein Dorf.
-
3:34 - 3:38Und seine Mutter zeigte uns einen wunderschön geflochtenen Korb
-
3:38 - 3:41aus gefärbtem Bast, den sein Bruder gemacht hatte.
-
3:41 - 3:43Ich war überrascht.
-
3:43 - 3:46Es wäre mir wirklich nicht eingefallen, dass jemand aus seiner Familie
-
3:46 - 3:49irgend etwas herstellen könnte.
-
3:49 - 3:52Alles was ich über sie gehört hatte war, wie arm sie waren,
-
3:52 - 3:54so dass es für mich unmöglich geworden war, sie als irgend etwas
-
3:54 - 3:57anderes zu sehen als arm.
-
3:57 - 4:01Ihre Armut war die einzige Geschichte von ihnen, die ich kannte.
-
4:01 - 4:03Jahre später dachte ich daran, als ich Nigeria verließ,
-
4:03 - 4:06um in den USA zu studieren.
-
4:06 - 4:08Ich war 19.
-
4:08 - 4:12Meine amerikanische Zimmergenossin war mit mir überfordert.
-
4:12 - 4:15Sie fragte mich, wo ich so gut Englisch zu sprechen gelernt hatte,
-
4:15 - 4:17und war verwirrt als ich ihr sagte, dass in Nigeria
-
4:17 - 4:22zufälligerweise Englisch die Amtssprache ist.
-
4:22 - 4:26Sie fragte, ob sie das, was sie meine "Stammesmusik" nannte, hören dürfe,
-
4:26 - 4:28und war dementsprechend sehr enttäuscht,
-
4:28 - 4:30als ich meine Kassette von Mariah Carey hervorholte.
-
4:30 - 4:33(Gelächter)
-
4:33 - 4:35Sie nahm an, dass ich nicht wusste,
-
4:35 - 4:38wie man einen Herd bedient.
-
4:38 - 4:40Was mich wirklich betroffen machte: Sie hatte Mitleid mit mir,
-
4:40 - 4:42bevor sie mich überhaupt gesehen hatte.
-
4:42 - 4:46Ihre Grundhaltung mir gegenüber als Afrikanerin,
-
4:46 - 4:50war eine Art gönnerhaftes, gut meinendes Mitleid.
-
4:50 - 4:53Meine Zimmergenossin kannte nur eine einzige Geschichte über Afrika.
-
4:53 - 4:56Eine einzige verhängnisvolle Geschichte.
-
4:56 - 4:58Diese einzige Geschichte enthielt keine Möglichkeit
-
4:58 - 5:02für Afrikaner, ihr in irgendeiner Weise ähnlich zu sein.
-
5:02 - 5:05Keine Möglichkeit für vielschichtigere Gefühle als Mitleid.
-
5:05 - 5:09Keine Möglichkeit für eine Beziehung als gleichberechtigte Menschen.
-
5:09 - 5:11Ich muss erwähnen, dass ich mich, bevor ich in die USA kam,
-
5:11 - 5:14nie bewusst als Afrikanerin identifiziert hatte.
-
5:14 - 5:17Aber in den USA wendeten sich die Menschen an mich, wann immer es um Afrika ging.
-
5:17 - 5:21Auch wenn ich nichts über Orte wie Namibia wusste.
-
5:21 - 5:23Aber ich begann diese neue Identität anzunehmen.
-
5:23 - 5:26Und in vielerlei Hinsicht, bezeichne ich mich nun als Afrikanerin.
-
5:26 - 5:28Obwohl ich immer noch ziemlich ärgerlich werde,
-
5:28 - 5:30wenn Afrika als ein Land bezeichnet wird.
-
5:30 - 5:34Das jüngste Beispiel erlebte ich bei meinem ansonsten wunderbaren Flug
-
5:34 - 5:36von Lagos vor zwei Tagen, bei dem
-
5:36 - 5:38es eine Durchsage der Virgin Fluggesellschaft gab
-
5:38 - 5:43über Wohltätigkeitsarbeit in "Indien, Afrika und anderen Ländern."
-
5:43 - 5:44(Gelächter)
-
5:44 - 5:48Nachdem ich also einige Jahre in den USA als Afrikanerin verbracht hatte,
-
5:48 - 5:52begann ich die Reaktion meiner Zimmergenossin auf mich zu verstehen.
-
5:52 - 5:55Wäre ich nicht in Nigeria aufgewachsen, und alles, was ich über Afrika wusste,
-
5:55 - 5:57stammte aus den gängigen Darstellungen,
-
5:57 - 6:00dann würde auch ich denken, Afrika sei ein Ort
-
6:00 - 6:04wunderschöner Landschaften, wunderschöner Tiere,
-
6:04 - 6:06und unergründlichen Menschen,
-
6:06 - 6:09die sinnlose Kriege führen, an Armut und AIDS sterben,
-
6:09 - 6:12unfähig sind für sich selbst zu sprechen,
-
6:12 - 6:14und die darauf warten, von einem freundlichen,
-
6:14 - 6:17weißen Ausländer gerettet zu werden.
-
6:17 - 6:19Ich würde Afrikaner auf die gleiche Weise betrachten,
-
6:19 - 6:23wie ich als Kind Fides Familie betrachtet hatte.
-
6:23 - 6:27Ich denke, diese einzige Geschichte Afrikas stammt letztlich aus der westlichen Literatur.
-
6:27 - 6:29Nun, hier ist ein Zitat aus
-
6:29 - 6:32den Schriften eines Londoner
Kaufmanns namens John Lok, -
6:32 - 6:35der 1561 nach Westafrika segelte
-
6:35 - 6:40und faszinierende Aufzeichnungen
seiner Reise machte. -
6:40 - 6:42Nachdem er die schwarzen Afrikaner als
-
6:42 - 6:44"Bestien, die keine Häuser haben" bezeichnet,
-
6:44 - 6:48schreibt er: "Es sind auch Menschen ohne Köpfe,
-
6:48 - 6:53die Mund und Augen in ihrer Brust haben."
-
6:53 - 6:55Nun, ich muss jedes Mal lachen, wenn ich das lese.
-
6:55 - 6:59Und man muss die Vorstellungskraft von John Locke bewundern.
-
6:59 - 7:01Aber was seine Aufzeichnungen so wichtig macht, ist,
-
7:01 - 7:03dass sie den Anfang einer Tradition darstellen,
-
7:03 - 7:06Geschichten über Afrika im Westen zu erzählen.
-
7:06 - 7:09Eine Tradition von Schwarzafrika als ein Ort von Schlechtem,
-
7:09 - 7:11von Unterschieden, von Dunkelheit,
-
7:11 - 7:15von Menschen die, mit den Worten des grandiosen Poeten,
-
7:15 - 7:17Rudyard Kipling,
-
7:17 - 7:20"halb Teufel, halb Kind" sind.
-
7:20 - 7:23Und langsam wurde mir klar, dass meine amerikanische Zimmergenossin
-
7:23 - 7:25während ihres Lebens unterschiedliche
-
7:25 - 7:27Versionen dieser einzigen Geschichte
-
7:27 - 7:29gehört und gesehen haben musste,
-
7:29 - 7:31genau wie dieser Professor,
-
7:31 - 7:36der mir einmal sagte, dass mein Roman nicht "authentisch afrikanisch" sei.
-
7:36 - 7:38Nun, ich war schon bereit zuzugeben, dass einige Dinge in dem Roman
-
7:38 - 7:40nicht stimmten,
-
7:40 - 7:44dass er an einigen Stellen misslungen war.
-
7:44 - 7:46Aber ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass er
-
7:46 - 7:49nicht das geworden war, was man authentisch afrikanisch nannte.
-
7:49 - 7:51Ich wusste tatsächlich nicht,
-
7:51 - 7:54was afrikanische Authentizität war.
-
7:54 - 7:56Der Professor sagte mir, dass meine Charaktere
-
7:56 - 7:58ihm, einem gebildeten Mann aus der Mittelschicht
-
7:58 - 8:00zu sehr ähnelten.
-
8:00 - 8:02Meine Charaktere fuhren Autos.
-
8:02 - 8:05Sie hungerten nicht.
-
8:05 - 8:09Deshalb waren sie nicht authentisch afrikanisch.
-
8:09 - 8:12Aber ich muss schnell hinzufügen, dass auch ich in der Frage
-
8:12 - 8:15der einzigen Geschichte nicht ganz unschuldig bin.
-
8:15 - 8:19Vor ein paar Jahren reiste ich aus den USA nach Mexiko.
-
8:19 - 8:21Das politische Klima in den USA war damals angespannt.
-
8:21 - 8:25Und es gab andauernde Einwanderungsdebatten.
-
8:25 - 8:27Und, wie so oft in Amerika,
-
8:27 - 8:30wurde Einwanderung zum Synonym für Mexikaner.
-
8:30 - 8:32Es gab unendlich viele Geschichten über Mexikaner
-
8:32 - 8:34als Menschen, die
-
8:34 - 8:36das Gesundheitssystem schröpften,
-
8:36 - 8:38sich über die Grenze stahlen,
-
8:38 - 8:42an der Grenze verhaftet wurden, und solche Dinge.
-
8:42 - 8:46Ich erinnere mich, wie ich an meinem ersten Tag in Guadalajara herumlief,
-
8:46 - 8:48beobachtete wie die Menschen zur Arbeit gingen,
-
8:48 - 8:50wie sie auf dem Marktplatz Tortillas zusammenrollten,
-
8:50 - 8:53rauchten und lachten.
-
8:53 - 8:56Ich erinnere mich, dass ich zuerst ein wenig überrascht war.
-
8:56 - 8:59Und dann war ich zutiefst beschämt.
-
8:59 - 9:02Ich hatte erkannt, dass ich von diesen Medienberichten
-
9:02 - 9:04über Mexikaner so durchdrungen worden war,
-
9:04 - 9:06dass diese in meinem Kopf ausschließlich zu
-
9:06 - 9:09bedauernswerten Immigranten geworden waren.
-
9:09 - 9:11Ich glaubte die einzige Geschichte über Mexikaner
-
9:11 - 9:14und ich konnte nicht beschämt genug über mich sein.
-
9:14 - 9:16So kreiert man also eine einzige Geschichte,
-
9:16 - 9:19man zeigt eine Seite eines Volkes,
-
9:19 - 9:21und nur diese eine Seite,
-
9:21 - 9:23immer und immer wieder,
-
9:23 - 9:26und dann wird diese Seite zur Identität.
-
9:26 - 9:28Es ist unmöglich über die einzige Geschichte zu sprechen,
-
9:28 - 9:31ohne über Macht zu sprechen.
-
9:31 - 9:33Es gibt ein Wort, ein Igbo Wort,
-
9:33 - 9:35an das ich immer denke, wenn ich über die
-
9:35 - 9:38Machtstruktur der Welt nachdenke. Es heißt "nkali."
-
9:38 - 9:40Es ist ein Substantiv, das in etwa übersetzt werden
-
9:40 - 9:43kann als "größer sein als ein anderer."
-
9:43 - 9:46Wie unsere Wirtschafts- und politischen Welten,
-
9:46 - 9:48definieren sich auch Geschichten durch
-
9:48 - 9:51das Prinzip von nkali.
-
9:51 - 9:53Wie sie erzählt werden, wer sie erzählt,
-
9:53 - 9:56wann sie erzählt werden, wie viele Geschichten erzählt werden,
-
9:56 - 10:00wird wirklich durch Macht bestimmt.
-
10:00 - 10:03Macht ist die Fähigkeit, die Geschichte einer anderen Person nicht nur zu erzählen,
-
10:03 - 10:07sondern sie zur maßgeblichen Geschichte dieser Person zu machen.
-
10:07 - 10:09Der palästinensische Dichter Mourid Barghouti schreibt,
-
10:09 - 10:12dass der einfachste Weg ein Volk zu enteignen
-
10:12 - 10:15darin besteht, seine Geschichte zu erzählen
-
10:15 - 10:18und mit "zweitens" zu beginnen.
-
10:18 - 10:22Beginnt man die Geschichte der nordamerikanischen Ureinwohner mit den Pfeilen
-
10:22 - 10:25und nicht mit der Ankunft der Briten,
-
10:25 - 10:28erzählt man eine ganz andere Geschichte.
-
10:28 - 10:30Beginnt man die Geschichte
-
10:30 - 10:32mit dem Scheitern des afrikanischen Staates
-
10:32 - 10:36und nicht mit der Errichtung des afrikanischen Staates durch Kolonisierung,
-
10:36 - 10:40erzählt man eine völlig andere Geschichte.
-
10:40 - 10:42Unlängst sprach ich an einer Universität, wo
-
10:42 - 10:44ein Student mir sagte, es sei
-
10:44 - 10:46solch eine Schande,
-
10:46 - 10:49dass nigerianische Männer Missbrauchstäter sind,
-
10:49 - 10:52wie der Vater in meinem Roman.
-
10:52 - 10:54Ich sagte ihm, dass ich kürzlich einen Roman gelesen hätte,
-
10:54 - 10:56mit dem Titel "American Psycho" --
-
10:56 - 10:58(Gelächter)
-
10:58 - 11:00-- und dass es solch eine Schande sei,
-
11:00 - 11:03dass junge Amerikaner Serienmörder sind.
-
11:03 - 11:07(Gelächter)
-
11:07 - 11:13(Applaus)
-
11:13 - 11:16Nun, offensichtlich sagte ich dies in einem Anflug leichter Irritation.
-
11:16 - 11:18(Gelächter)
-
11:18 - 11:20Es wäre mir nie in den Sinn gekommen zu denken,
-
11:20 - 11:22nur weil ich einen Roman gelesen hatte,
-
11:22 - 11:24in dem eine Person ein Serienmörder war,
-
11:24 - 11:26dass dieser irgendwie alle
-
11:26 - 11:28Amerikaner repräsentierte.
-
11:28 - 11:31Und jetzt bin ich natürlich kein besserer Mensch bin als dieser Student,
-
11:31 - 11:34aber weil Amerika kulturelle und wirtschaftliche Macht besitzt,
-
11:34 - 11:36kannte ich viele Geschichten über Amerika.
-
11:36 - 11:40Ich hatte Tyler und Updike und Steinbeck und Gaitskill gelesen.
-
11:40 - 11:43Ich kannte nicht nur eine einzige Geschichte über Amerika.
-
11:43 - 11:46Als ich vor ein paar Jahren lernte, dass Autoren
-
11:46 - 11:50mit einer unglücklichen Kindheit aufwarten müssen,
-
11:50 - 11:52um erfolgreich sein zu können,
-
11:52 - 11:54begann ich darüber nachzudenken, wie ich schlimme
-
11:54 - 11:56Dinge erfinden könnte, die meine Eltern mir angetan hatten.
-
11:56 - 11:58(Gelächter)
-
11:58 - 12:02Aber die Wahrheit ist, dass ich eine sehr glückliche Kindheit hatte,
-
12:02 - 12:05voller Lachen und Liebe, in einer sehr eng verbundenen Familie.
-
12:05 - 12:09Aber ich hatte auch Großväter, die in Flüchtlingslagern starben.
-
12:09 - 12:13Mein Cousin Polle starb, weil er keine ausreichende medizinische Versorgung bekam.
-
12:13 - 12:16Einer meiner besten Freunde, Okoloma, starb bei einem Flugzeugunglück,
-
12:16 - 12:19weil unsere Feuerwehrautos kein Wasser hatten.
-
12:19 - 12:22Ich wuchs unter repressiven Militärregimen auf,
-
12:22 - 12:24die Bildung nicht wertschätzten,
-
12:24 - 12:27so dass manchmal die Gehälter meiner Eltern nicht bezahlt wurden.
-
12:27 - 12:31Und so erfuhr ich als Kind, wie die Marmelade vom Frühstückstisch verschwand,
-
12:31 - 12:33dann verschwand Margarine,
-
12:33 - 12:36dann wurde Brot zu teuer,
-
12:36 - 12:39danach wurde die Milch rationiert.
-
12:39 - 12:42Und vor allem, drang eine Art alltäglicher politischer Angst
-
12:42 - 12:46in unser Leben ein.
-
12:46 - 12:48All diese Geschichten machen mich zu der Person, die ich bin.
-
12:48 - 12:52Aber wenn man nur auf diesen negativen Geschichten beharrt,
-
12:52 - 12:55wird damit meine Erfahrung abgeflacht
-
12:55 - 12:57und viele andere Geschichten, die mich formten
-
12:57 - 12:59werden übersehen.
-
12:59 - 13:02Die einzige Geschichte formt Klischees.
-
13:02 - 13:05Und das Problem mit Klischees ist nicht,
-
13:05 - 13:07dass sie unwahr sind,
-
13:07 - 13:09sondern dass sie unvollständig sind.
-
13:09 - 13:13Sie machen eine Geschichte zur einzigen Geschichte.
-
13:13 - 13:15Afrika ist natürlich ein Kontinent mit vielen Katastrophen.
-
13:15 - 13:19Es gibt ungeheure, wie die schrecklichen Vergewaltigungen im Kongo.
-
13:19 - 13:21Und deprimierende, wie die Tatsache, dass
-
13:21 - 13:26sich in Nigeria 5000 Menschen auf eine freie Arbeitsstelle bewerben.
-
13:26 - 13:29Es gibt aber auch andere Geschichten, die nicht von Katastrophen handeln.
-
13:29 - 13:33Und es ist sehr wichtig, sogar genauso wichtig, über sie zu reden.
-
13:33 - 13:35Ich hatte immer das Gefühl, es sei unmöglich,
-
13:35 - 13:38sich richtig mit einem Ort oder einer Person zu beschäftigen,
-
13:38 - 13:42wenn man sich nicht mit allen Geschichten dieses Ortes oder dieser Person beschäftigt.
-
13:42 - 13:45Die Folge der einzigen Geschichte
-
13:45 - 13:48ist diese: Es beraubt die Menschen ihrer Würde.
-
13:48 - 13:52Sie erschwert es uns, unsere Gleichheit als Menschen zu erkennen.
-
13:52 - 13:55Sie betont eher unsere Unterschiede
-
13:55 - 13:57als unsere Gemeinsamkeiten.
-
13:57 - 13:59Was wäre, wenn ich nun vor meiner Reise nach Mexiko
-
13:59 - 14:03die Einwanderungsdebatte auf beiden Seiten verfolgt hätte,
-
14:03 - 14:05auf der amerikanischen und der mexikanischen?
-
14:05 - 14:09Was wäre, wenn meine Mutter uns erzählt hätte, dass Fides Familie arm
-
14:09 - 14:11und fleißig ist?
-
14:11 - 14:13Was wäre, wenn wir einen afrikanischen Fernsehsender hätten,
-
14:13 - 14:17der verschiedene afrikanische Geschichten in der ganzen Welt verbreitet?
-
14:17 - 14:19Was der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe
-
14:19 - 14:22"ein Gleichgewicht der Geschichten" nennt.
-
14:22 - 14:25Was wäre, wenn meine Zimmergenossin von meinem nigerianischen Verleger
-
14:25 - 14:27Mukta Bakary wüsste,
-
14:27 - 14:29einem bemerkenswerten Mann, der seinen Job in einer Bank kündigte,
-
14:29 - 14:32um seinen Traum von einem eigenen Verlagshaus zu verwirklichen?
-
14:32 - 14:36Nun, in der gängigen Meinung lasen Nigerianer keine Literatur.
-
14:36 - 14:38Er war anderer Meinung. Er glaubte,
-
14:38 - 14:40dass Menschen, die lesen können auch lesen würden,
-
14:40 - 14:44wenn man Literatur für sie erschwinglich und zugänglich macht.
-
14:44 - 14:47Kurz nachdem er meinen ersten Roman veröffentlicht hatte,
-
14:47 - 14:50ging ich zu einem Interview in ein Fernsehstudio in Lagos.
-
14:50 - 14:53Und eine Frau, die dort als Bürobotin arbeitete, kam auf mich zu und sagte:
-
14:53 - 14:56"Ich mochte Ihren Roman sehr gerne. Mir gefällt das Ende nicht.
-
14:56 - 14:59Sie müssen jetzt eine Fortsetzung schreiben und dort wird Folgendes passieren..."
-
14:59 - 15:02(Gelächter)
-
15:02 - 15:05Und sie erzählte mir weiter, was ich in der Fortsetzung zu schreiben hätte.
-
15:05 - 15:08Nun, davon fühlte ich mich nicht nur geschmeichelt, ich war sehr bewegt.
-
15:08 - 15:11Das war eine Frau, ein Teil der gewöhnlichen Masse Nigerias,
-
15:11 - 15:14die angeblich keine Bücher lesen.
-
15:14 - 15:16Sie hatte nicht nur das Buch gelesen, sie hatte es zu ihrem Eigentum gemacht
-
15:16 - 15:19und fühlte sich dazu berechtigt, mir zu erzählen,
-
15:19 - 15:21was ich in der Fortsetzung zu schreiben hätte.
-
15:21 - 15:25Was wäre also, wenn meine Zimmergenossin von meiner Freundin Fumi Onda wüsste,
-
15:25 - 15:28einer mutigen Frau, die eine TV Show in Lagos moderiert,
-
15:28 - 15:31und die fest entschlossen ist, die Geschichten zu erzählen, die wir lieber vergessen würden?
-
15:31 - 15:35Was wäre, wenn meine Zimmergenossin von der Herzoperation wüsste,
-
15:35 - 15:38die letzte Woche im Krankenhaus von Lagos durchgeführt wurde?
-
15:38 - 15:42Was wäre, wenn meine Zimmergenossin von der heutigen nigerianischen Musik wüsste.
-
15:42 - 15:45Talentierte Menschen singen auf Englisch und Pidgin
-
15:45 - 15:47und Igbo und Yoruba und Ijo.
-
15:47 - 15:51Sie vermischen Einflüsse von Jay-Z über Fela
-
15:51 - 15:54und Bob Marley bis hin zu ihren Großvätern.
-
15:54 - 15:56Was wäre, wenn meine Zimmergenossin von der Anwältin wüsste,
-
15:56 - 15:58die vor Kurzem in Nigeria vor Gericht zog,
-
15:58 - 16:00um gegen ein lächerliches Gesetz anzugehen,
-
16:00 - 16:03das von Frauen die Zustimmung des Ehemanns erforderte,
-
16:03 - 16:06wenn sie ihren Ausweis verlängern möchten?
-
16:06 - 16:09Was wäre, wenn meine Zimmergenossin von Nollywood wüsste,
-
16:09 - 16:13wo viele innovative Menschen trotz großer technischer Schwierigkeiten Filme machen?
-
16:13 - 16:15Filme, die so erfolgreich sind,
-
16:15 - 16:17dass sie wirklich das beste Beispiel dafür sind,
-
16:17 - 16:20dass Nigerianer auch annehmen, was sie produzieren.
-
16:20 - 16:23Was wäre, wenn mein Zimmergenossin von meiner tollen, ehrgeizigen Friseurin wüsste,
-
16:23 - 16:27die gerade erst ihr eigenes Geschäft eröffnet hat, in dem sie Haarverlängerungen verkauft?
-
16:27 - 16:29Or von den Millionen Nigerianern,
-
16:29 - 16:31die ein Geschäft eröffnen und manchmal scheitern,
-
16:31 - 16:35die aber ihr Streben weiter nähren?
-
16:35 - 16:37Jedes Mal, wenn ich zu Hause bin, werde ich mit den
-
16:37 - 16:40üblichen Ärgernissen der meisten Nigerianer konfrontiert:
-
16:40 - 16:43unsere misslungene Infrastruktur, unsere gescheiterte Regierung.
-
16:43 - 16:46Aber ich erfahre auch die unglaubliche Widerstandsfähigkeit von Menschen,
-
16:46 - 16:49die Erfolg haben - eher trotz der Regierung,
-
16:49 - 16:51als wegen ihr.
-
16:51 - 16:54Ich gebe jeden Sommer Schreibkurse in Lagos.
-
16:54 - 16:57Und ich finde es erstaunlich, wie viele Menschen sich einschreiben,
-
16:57 - 17:00wie viele Menschen unbedingt schreiben möchten,
-
17:00 - 17:02um Geschichten zu erzählen.
-
17:02 - 17:05Mein nigerianischer Verleger und ich haben gerade eine
-
17:05 - 17:07gemeinnützige Organisation, Farafina Trust gegründet.
-
17:07 - 17:10Und wir haben große Träume davon, Büchereien zu bauen
-
17:10 - 17:12und bestehende Büchereien neu auszustatten
-
17:12 - 17:15und staatlichen Schulen Bücher zur Verfügung zu stellen,
-
17:15 - 17:17deren Büchereien ganz leer sind,
-
17:17 - 17:19und auch viele, viele Lese- und Schreibkurse
-
17:19 - 17:21abzuhalten,
-
17:21 - 17:24für jene Menschen, die unbedingt unsere vielen Geschichten erzählen möchten.
-
17:24 - 17:26Geschichten sind wichtig.
-
17:26 - 17:28Viele Geschichten sind wichtig.
-
17:28 - 17:32Geschichten wurden benutzt um zu enteignen und zu verleumden.
-
17:32 - 17:36Aber Geschichten können auch genutzt werden um zu befähigen und zu humanisieren.
-
17:36 - 17:39Geschichten können die Würde eines Volkes brechen.
-
17:39 - 17:44Aber Geschichten können diese gebrochene Würde auch wiederherstellen.
-
17:44 - 17:46Die amerikanischer Schriftstellerin Alice Walker schrieb Folgendes
-
17:46 - 17:48über ihre Verwandten aus dem Süden,
-
17:48 - 17:50die in den Norden gezogen waren.
-
17:50 - 17:52Sie gab ihnen ein Buch über
-
17:52 - 17:55das Leben im Süden, das sie hinter sich gelassen hatten.
-
17:55 - 17:59"Sie saßen herum, lasen das Buch,
-
17:59 - 18:05hörten mir zu, wie ich aus dem Buch vorlas, und ein Stück vom Paradies wurde zurückerobert."
-
18:05 - 18:08Ich möchte gerne enden mit diesem Gedanken:
-
18:08 - 18:11Dass wir, wenn wir die einzige Geschichte ablehnen,
-
18:11 - 18:14wenn wir realisieren, dass es niemals nur eine einzige Geschichte gibt,
-
18:14 - 18:16über keinen Ort,
-
18:16 - 18:18dann erobern wir ein Stück vom Paradies zurück.
-
18:18 - 18:20Vielen Dank.
-
18:20 - 18:28(Applaus)
- Title:
- Die Gefahr der einen einzigen Geschichte
- Speaker:
- Chimamanda Adichie
- Description:
-
Unsere Leben, unsere Kulturen bestehen aus vielen sich überlappenden Geschichten. Die Schriftstellerin Chimamanda Adichie erzählt die Geschichte, wie sie die authentische Stimme ihrer Kultur gefunden hat – und warnt uns davor, dass wir, wenn wir nur eine einzige Geschichte über eine andere Person oder Land hören, ein bedenkliches Missverständnis riskieren.
- Video Language:
- English
- Team:
- closed TED
- Project:
- TEDTalks
- Duration:
- 18:29
Angelika Lueckert Leon edited German subtitles for The danger of a single story | ||
Katja Tongucer added a translation |