Ivan Oransky: Sind wir über-medikalisiert?
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0:00 - 0:04Falls Sie den Film "Moneyball" gesehen haben,
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0:04 - 0:06oder das Buch von Michael Lewis gelesen,
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0:06 - 0:09dann kennen Sie die Geschichte von Billy Beane.
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0:09 - 0:14Bill sollte nach Aussage der Talent-Scouts ein großer Baseball-Spieler werden.
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0:14 - 0:15Sie sagten seinen Eltern,
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0:15 - 0:17dass sie für ihn eine immense Karriere voraussahen.
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0:17 - 0:22Aber als er dann den Vertrag unterschrieb – den er übrigens nicht
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0:22 - 0:25unterschreiben wollte, denn er wollte aufs College –
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0:25 - 0:27von dem mir meine Mutter, die mich tatsächlich liebt, sagte,
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0:27 - 0:30dass ich es auch tun sollte, und ich tat es –
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0:30 - 0:33na ja, es lief nicht so gut für ihn. Er war am Kämpfen.
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0:33 - 0:38Er wurde ein paar Mal eingetauscht und verbrachte den Großteil seiner Karriere in unteren Ligen,
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0:38 - 0:42und endete dann im Management. Er wurde der General Manager
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0:42 - 0:42der "Oakland A's".
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0:42 - 0:47Für viele hier im Raum wird eine Endstation im Management, wie es auch mir widerfahren ist,
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0:47 - 0:49als Erfolg gewertet.
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0:49 - 0:52Ich versichere Ihnen aber, für jemanden, der es im Baseball ganz weit bringen will,
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0:52 - 0:56ist eine Managementkarriere keine Erfolgsgeschichte. Es ist Scheitern.
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0:56 - 1:01Und in meinem Vortrag heute möchte ich darüber sprechen,
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1:01 - 1:05dass unser Gesundheitssystem genau so schlecht dabei ist,
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1:05 - 1:10vorherzusagen, was Leuten darin widerfahren wird – Patienten, anderen –
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1:10 - 1:14wie diese Talent-Scouts bei der Karriere von Billy Beane.
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1:14 - 1:17Und doch werden jeden Tag
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1:17 - 1:19Tausende von Leuten in diesem Land
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1:19 - 1:23mit Vorstufen von Erkrankungen diagnostiziert.
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1:23 - 1:27Man hört von Vor-Bluthochdruck, Vor-Demenz,
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1:27 - 1:32Vor-Ängste – damit habe ich mich auch im
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1:32 - 1:34Vorbereitungsraum diagnostiziert.
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1:34 - 1:38Wir kennen auch subklinische Erkrankungen.
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1:38 - 1:43Es gibt subklinische Arteriosklerose, subklinische Arterienverhärtung,
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1:43 - 1:46die potentiell natürlich zu Herzinfarkten führen kann.
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1:46 - 1:50Eine meiner liebsten Erkrankungen ist subklinische Akne.
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1:50 - 1:54Die Suche nach "subklinischer Akne" führt zu einer Webseite,
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1:54 - 1:58wo behauptet wird, das sei die am leichtesten zu behandelnde Akne.
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1:58 - 2:04Es gibt keine Pusteln oder Röte oder Entzündung.
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2:04 - 2:08Vielleicht liegt das daran, dass man gar keine Akne hat.
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2:08 - 2:14Ich habe einen Namen für alle diese Erkrankungen:
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2:14 - 2:16Sie sind lächerlich.
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2:16 - 2:22In Baseball folgt das Spiel dem Vor-Spiel.
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2:22 - 2:25Eine Saison folgt der Vor-Saison.
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2:25 - 2:29Aber bei vielen dieser Erkrankungen ist das nicht der Fall,
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2:29 - 2:34oder zumindest nicht immer. So als gäbe es jedes Mal eine Verzögerung wegen Regens.
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2:34 - 2:36Es gibt prä-karzinöse Wunden,
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2:36 - 2:39die sich oft gar nicht zu Krebs entwickeln.
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2:39 - 2:41Und doch,
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2:41 - 2:45wenn man etwa subklinische Osteoporose nähme, eine Knochenschwächung,
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2:45 - 2:47die Vorerkrankung
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2:47 - 2:49ist als Osteopenie bekannt,
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2:49 - 2:53dann müsste man drei Jahre lang 270 Frauen behandeln,
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2:53 - 2:55um einen gebrochenen Knochen zu verhindern.
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2:55 - 2:56Das sind verdammt viele Frauen,
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2:56 - 2:59wenn man mit denen die Anzahl der mit Osteopenie
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2:59 - 3:01diagnostizierten Frauen multipliziert.
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3:01 - 3:03Ist es angesichts all der Kosten
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3:03 - 3:06und Nebenwirkungen der Medikamente, mit denen wir
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3:06 - 3:10diese Vorerkrankungen behandeln, noch eine Überraschung,
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3:10 - 3:14dass wir jedes Jahr mehr als zwei Billiarden Dollar zur Gesundheitsvorsorge ausgeben
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3:14 - 3:17und doch 100.000 Leute pro Jahr – vorsichtig geschätzt – sterben,
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3:17 - 3:19nicht wegen ihrer Erkrankungen,
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3:19 - 3:23sondern wegen der Behandlungen und der damit auftretenden Komplikationen?
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3:23 - 3:26Wir haben alles in diesem Land
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3:26 - 3:27medikalisiert.
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3:27 - 3:30Werte Damen im Publikum: Ich habe leider
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3:30 - 3:32schlechte Nachrichten, die Ihnen schon bekannt sind,
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3:32 - 3:35nämlich, dass jeder Aspekt Ihres Lebens
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3:35 - 3:36medikalisiert worden ist.
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3:36 - 3:39Der erste Streich erfolgt in der Pubertät.
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3:39 - 3:43Jetzt haben Sie eine einmalige Sache im Monat, die medikalisiert wurde.
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3:43 - 3:44Es ist eine Erkrankung,
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3:44 - 3:46es muss behandelt werden. Streich zwei
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3:46 - 3:47erfolgt bei der Schwangerschaft.
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3:47 - 3:50Die wurde ebenfalls medikalisiert.
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3:50 - 3:52Wenn man keine hochtechnisierte Erfahrung
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3:52 - 3:55mit Schwangerschaft hat, könnte ja etwas schief gehen.
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3:55 - 3:59Der dritte Streich sind die Wechseljahre.
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3:59 - 4:03Wir alle wissen, was passierte, als Millionen Frauen über Jahrzehnte
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4:03 - 4:06Hormonersatztherapie für Symptome
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4:06 - 4:10der Wechseljahre erhielten, bis wir wegen einer riesigen Studie, gefördert von der nationalen Gesundheitsbehörde,
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4:10 - 4:11herausfanden,
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4:11 - 4:12dass ein Großteil
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4:12 - 4:17dieser Hormonersatztherapie bei vielen dieser Frauen
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4:17 - 4:19mehr Schaden als Gutes anrichtete.
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4:19 - 4:21Ich möchte natürlich
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4:21 - 4:23die Männer nicht außen vor lassen –
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4:23 - 4:24ich bin ja schließlich einer –
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4:24 - 4:27für alle in diesem Raum und für alle Zuschauer
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4:27 - 4:28und Zuhörer gibt es
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4:28 - 4:30schreckliche Nachrichten:
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4:30 - 4:31Sie haben alle
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4:31 - 4:34eine universal tödliche Krankheit.
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4:34 - 4:37Atmen Sie mal kurz durch.
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4:37 - 4:38Es heißt Vor-Tod.
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4:38 - 4:43Jeder von Ihnen hat es, denn alle weisen den Risikofaktor auf:
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4:43 - 4:45Sie sind lebendig.
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4:45 - 4:48Aber ich habe auch gute Nachrichten, denn
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4:48 - 4:52ich bin Journalist und höre gern mit einem positiven Ausblick auf.
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4:52 - 4:56Und die Nachricht ist die: Wenn Sie bis zum Ende meines Vortrags überleben,
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4:56 - 4:59wir werden ja sehen, ob das für alle zutrifft,
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4:59 - 5:02dann sind Sie ein "Pre-Vivor", ein "Vor-Überlebender".
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5:02 - 5:07Ich habe mir den Vor-Tod ausgedacht.
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5:07 - 5:11Hoffentlich mache ich nicht jemand anderem den Vor-Tod abspenstig,
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5:11 - 5:13aber ich glaube, es ist meine Kreation.
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5:13 - 5:14"Pre-Vivor" habe ich aber nicht erfunden.
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5:14 - 5:20Eine bestimmte Krebs-Interessengruppe möchte jeden so nennen,
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5:20 - 5:21der zwar einen Risikofaktor,
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5:21 - 5:23aber nicht tatsächlich Krebs
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5:23 - 5:25aufweist.
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5:25 - 5:26Dann ist man ein "Pre-Vivor".
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5:26 - 5:31Heute früh war HBO hier. Falls Mark Burnett hier im Publikum sitzt,
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5:31 - 5:32würde ich gern vorschlagen,
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5:32 - 5:37eine Reality-TV-Show namens "Pre-Vivor" zu machen.
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5:37 - 5:40Man fliegt von der Insel, wenn man eine Krankheit bekommt.
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5:40 - 5:45Aber das Problem ist, dass unser System
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5:45 - 5:47im Prinzip komplett
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5:47 - 5:49dorthin führt.
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5:49 - 5:52Wir haben uns entschieden, zu jedem Zeitpunkt in unserem System
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5:52 - 5:56jedem eine Vorerkrankung zu verpassen und in einigen Fällen
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5:56 - 5:58dann auch eine Erkrankung.
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5:58 - 6:02Das beginnt beim Arzt-Patienten-Verhältnis. Die meisten Ärzte
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6:02 - 6:07arbeiten in einem Gebühr-für-Leistung-System. Sie werden dazu ermutigt, mehr zu tun –
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6:07 - 6:09Tests, Behandlungen,
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6:09 - 6:11Medikamente verschreiben.
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6:11 - 6:12Patienten kommen zu ihnen
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6:12 - 6:16und dann wollen sie einfach etwas tun. Wir Amerikaner können nicht einfach
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6:16 - 6:19dastehen, wir müssen etwas tun. Also wollen sie Medikamente.
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6:19 - 6:23Sie wollen Behandlung. Sie möchten hören: "Sie haben das und so behandelt man das."
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6:23 - 6:25Wenn man das vom Arzt nicht bekommt,
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6:25 - 6:27geht man woanders hin.
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6:27 - 6:29Das ist nicht sehr gut für eine Arztpraxis.
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6:29 - 6:30Oder, noch schlimmer:
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6:30 - 6:34Wenn man irgendwann eine Diagnose bekommt und der Arzt diesen Test nicht verordnete,
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6:34 - 6:37wird er verklagt.
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6:37 - 6:40Es gibt Pharmakonzerne, die ständig bestrebt sind, die Anzeichen zu erweitern,
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6:40 - 6:45die Anzahl der Menschen, die für eine Behandlung geeignet sind,
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6:45 - 6:48denn das trägt natürlich ihren Zwecken bei. Es gibt Interessengruppen
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6:48 - 6:50wie die, die sich die "Pre-Vivors" ausgedacht haben,
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6:50 - 6:54die immer mehr Leuten ein Risiko oder eine Erkrankung andrehen wollen,
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6:54 - 6:56damit sie mehr Gelder gewinnen können,
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6:56 - 6:59ihren Bekanntheitsgrad erhöhen, etc.
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6:59 - 7:01Aber es geht hier nicht darum,
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7:01 - 7:04bestimmte Gruppen zu beschuldigen, obwohl das Journalisten
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7:04 - 7:05natürlich gern tun.
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7:05 - 7:07Wir alle tragen Verantwortung.
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7:07 - 7:08Ich trage Verantwortung.
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7:08 - 7:12Ich bin Yankees-Fan, mir muss man also nicht sagen,
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7:12 - 7:15wie es ist, den schlechtesten Angriff zu bejubeln,
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7:15 - 7:17wenn es darum geht, das Äußerste zu geben.
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7:17 - 7:19Danke.
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7:19 - 7:23Aber alle tragen Verantwortung.
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7:23 - 7:26Ich habe Medizin studiert
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7:26 - 7:30und natürlich nicht den Kurs "Skeptisch Denken" belegt,
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7:30 - 7:32oder "Wie man keine Tests verordnet".
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7:32 - 7:35In unserem System
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7:35 - 7:37tut man das eben.
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7:37 - 7:40Und um diese ganzen Motivationen zu verstehen,
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7:40 - 7:44musste ich schon Journalist sein. In der Wirtschaft sagt man gern:
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7:44 - 7:45Es gibt keine schlechten Menschen,
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7:45 - 7:47nur schlechte Gründe.
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7:47 - 7:49Und das stimmt sogar.
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7:49 - 7:52Denn wir haben so eine Art "Feld der Träume" der medizinischen Technologie erschaffen.
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7:52 - 7:57Man stellt ein MRT in jede Ecke und einen Roboter
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7:57 - 8:01in jedes Krankenhaus, der sagt, dass alle robotische Chirurgie brauchen.
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8:01 - 8:05Wir haben ein System erschaffen, wo sie herbeikommen werden, wenn man es baut.
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8:05 - 8:08Aber perverserweise kann man
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8:08 - 8:11Leute anlocken, sie überzeugen,
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8:11 - 8:13dass sie vorbeikommen müssen.
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8:13 - 8:17Erst als Journalist wurde mir bewusst, wie sehr ich Teil dieses Problems bin,
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8:17 - 8:19wie wir alle Teil dieses Problems sind.
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8:19 - 8:23Ich medikalisierte jeden Risikofaktor, schrieb Geschichten, gab Schreibaufträge,
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8:23 - 8:27jeden Tag, die zwar nicht direkt die Leute
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8:27 - 8:30verstören sollten, aber das passierte ganz oft.
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8:30 - 8:33Aber es gibt Auswege.
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8:33 - 8:34Letzte Woche war ich bei meinem Internisten,
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8:34 - 8:37und er sagte zu mir:
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8:37 - 8:39"Wissen Sie", und sagte mir etwas,
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8:39 - 8:42das alle in diesem Publikum mir ohne Entgelt gesagt hätten,
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8:42 - 8:44aber ich habe ihn dafür bezahlt, nämlich dies:
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8:44 - 8:46Ich muss abnehmen.
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8:46 - 8:51Er hat recht. Ich habe schon seit zwölf Jahren
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8:51 - 8:52einen extrem überhöhten Blutdruck,
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8:52 - 8:54bekam ihn zur selben Zeit wie mein Vater,
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8:54 - 8:58und es ist eine Krankheit. Nicht Vor-Hypertonie, sondern
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8:58 - 9:00echte Hypertonie, Bluthochdruck.
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9:00 - 9:01Er hat recht,
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9:01 - 9:04aber er sagte nicht zu mir:
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9:04 - 9:06"Sie haben Vor-Übergewicht" oder
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9:06 - 9:09Vor-Diabetes oder so etwas. Er sagte nicht:
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9:09 - 9:12"Nehmen Sie besser dieses Statin um den Cholesterinspiegel zu senken."
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9:12 - 9:15Statt dessen sagte er: "Nehmen Sie mal ein bisschen ab. Dann kommen Sie zurück
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9:15 - 9:17oder rufen Sie mich an und sagen Sie, wie es Ihnen geht."
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9:17 - 9:19Für mich ist das
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9:19 - 9:21ein Fortschritt.
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9:21 - 9:23Billy Beane übrigens kam zum selben Schluss.
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9:23 - 9:25Er erkannte,
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9:25 - 9:29indem er diesen Jungen beobachtete und schließlich einstellte, und der sich als Erfolg entpuppte,
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9:29 - 9:33dass man keine voreiligen Entscheidungen trifft,
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9:33 - 9:38dass beim Baseball nicht jeder Ball ein Homerun ist, was Teams wie die Yankees gern denken,
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9:38 - 9:40die holen sich gern solche Typen an Bord.
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9:40 - 9:44Dieser Junge sagte zu ihm, du musst die Leute beobachten und dann
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9:44 - 9:45die Leute finden, die gern ein Stück gehen,
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9:45 - 9:47denn man kommt auch im Gehen zur nächsten Base,
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9:47 - 9:50und das ist auch gut. In unserem Gesundheitssystem
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9:50 - 9:51müssen wir herausfinden,
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9:51 - 9:53ob der Ball gut geworfen wurde
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9:53 - 9:56oder ob wir ihn einfach durchgehen lassen sollen und nicht unseren Schläger schwingen?
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9:56 - 9:58Danke.
- Title:
- Ivan Oransky: Sind wir über-medikalisiert?
- Speaker:
- Ivan Oransky
- Description:
-
Der Redakteur für Gesundheit bei Reuters Ivan Oransky warnt vor einer Epidemie lächerlicher Vorerkrankungen – Vor-Diabetes, Vor-Krebs und viele mehr. In diesem Vortrag bei TEDMED zeigt er, wie Gesundheitsvorsorge zu einer Lösung kommen kann... durch eine wichtige Lektion aus dem Baseball.
- Video Language:
- English
- Team:
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- Project:
- TEDTalks
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- 10:04
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