Kathryn Schulz: Über das Irren
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0:00 - 0:03Es ist also 1995,
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0:03 - 0:05ich bin an der Universität
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0:05 - 0:08und eine Freundin und ich starten einen Roadtrip
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0:08 - 0:10von Providence, Rhode Island,
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0:10 - 0:12nach Portland, Oregon.
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0:12 - 0:15Und wissen Sie, wir sind jung und arbeitslos,
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0:15 - 0:17deswegen fahren wir die ganze Strecke über Nebenstraßen,
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0:17 - 0:19durch Naturschutzgebiete
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0:19 - 0:22und Nationalparks –
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0:22 - 0:25im Grunde genommen die längste mögliche Route, die man überhaupt nehmen kann.
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0:26 - 0:29Und irgendwo in der Mitte von South Dakota
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0:29 - 0:32wende ich mich zu meiner Freundin
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0:32 - 0:34und stelle ihr eine Frage,
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0:34 - 0:36die mich schon
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0:36 - 0:392.000 Meilen lang beschäftigt hat.
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0:40 - 0:44„Was soll das chinesische Schriftzeichen bedeuten, das ich andauernd am Straßenrand sehe?“
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0:47 - 0:51Meine Freundin sieht mich vollkommen verständnislos an.
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0:51 - 0:53Da ist übrigens ein Herr in der ersten Reihe,
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0:53 - 0:56der ihren Gesichtsausdruck perfekt imitiert.
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0:56 - 0:59(Lachen)
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0:59 - 1:01Und ich so: „Du weißt schon,
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1:01 - 1:03all die Schilder, die wir andauernd sehen,
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1:03 - 1:06mit dem chinesischen Schriftzeichen drauf.“
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1:07 - 1:10Sie starrt mich ein paar Sekunden lang bloß an
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1:10 - 1:13und dann bricht es aus ihr heraus,
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1:13 - 1:15weil sie kapiert hat, wovon ich spreche.
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1:15 - 1:18Und was ich meinte, ist Folgendes.
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1:18 - 1:24(Lachen)
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1:24 - 1:28Richtig, das berühmte chinesische Schriftzeichen für Rastplatz.
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1:28 - 1:30(Lachen)
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1:30 - 1:34Ich habe die letzten fünf Jahre meines Lebens damit verbracht,
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1:34 - 1:36über Situationen nachzudenken,
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1:36 - 1:39genau wie diese –
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1:39 - 1:41warum wir manchmal die Zeichen
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1:41 - 1:43um uns herum missverstehen,
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1:43 - 1:46und wie wir uns verhalten, wenn es passiert
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1:46 - 1:50und was all das uns über die menschliche Natur verraten kann.
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1:50 - 1:52Mit anderen Worten, so wie es Chris gesagt hat,
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1:52 - 1:54ich habe die fünf Jahre damit verbracht,
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1:54 - 1:57über das Irren nachzudenken.
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1:57 - 2:00Dies mag Ihnen als Karrierewahl merkwürdig erscheinen,
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2:00 - 2:03aber es hat in der Tat einen großen Vorteil:
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2:03 - 2:05keine Konkurrenz.
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2:05 - 2:07(Lachen)
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2:07 - 2:10Tatsächlich tun die meisten von uns alles Mögliche,
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2:10 - 2:13um zu vermeiden, über das Irren nachzudenken,
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2:13 - 2:15oder wenigstens um zu vermeiden, über die Möglichkeit nachzudenken,
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2:15 - 2:17dass wir selbst uns irren.
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2:17 - 2:19Wir verstehen das auf einer abstrakten Ebene.
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2:19 - 2:21Wir alle wissen, dass jeder in diesem Raum Fehler macht.
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2:22 - 2:25Die menschliche Spezies ist grundsätzlich fehlbar – so weit, so gut.
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2:26 - 2:29Aber wenn es speziell um mich geht,
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2:29 - 2:31um alles, woran ich glaube,
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2:31 - 2:34hier in der Gegenwart,
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2:34 - 2:38ist plötzlich all diese abstrakte Anerkennung der Fehlbarkeit
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2:38 - 2:41für die Katz –
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2:41 - 2:44und mir fällt einfach nichts ein, bei dem ich mich irren könnte.
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2:45 - 2:48Und die Sache ist die, wir leben in der Gegenwart.
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2:48 - 2:51Wir gehen zu Besprechungen in der Gegenwart;
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2:51 - 2:53wir machen Familienurlaub in der Gegenwart;
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2:53 - 2:57wir gehen zur Wahl und geben unsere Stimme ab in der Gegenwart.
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2:57 - 3:00Alles in allem ist es so, dass wir durchs Leben gehen,
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3:00 - 3:02gefangen in dieser kleinen Blase
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3:02 - 3:05der Gewissheit, bei allem recht zu haben.
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3:06 - 3:08Ich denke, das ist ein Problem.
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3:08 - 3:11Ich denke, das ist ein Problem für jeden von uns als Individuum,
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3:11 - 3:14in unserem Privat- und Berufsleben,
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3:14 - 3:17und ich denke, das ist ein kollektives Problem für uns alle als Kultur.
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3:17 - 3:19Was ich heute also tun möchte,
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3:19 - 3:22ist zu allererst, darüber zu sprechen, warum wir
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3:22 - 3:24in dem Gefühl gefangen sind, recht zu haben.
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3:24 - 3:27Und zweitens, warum das so ein Problem ist.
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3:27 - 3:29Und schließlich möchte ich Sie überzeugen,
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3:29 - 3:31dass es möglich ist
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3:31 - 3:33dieses Gefühl hinter sich zu lassen,
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3:33 - 3:35und dass dies, wenn Sie es können,
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3:35 - 3:37der größte moralische, intellektuelle und
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3:37 - 3:40kreative Sprung ist, den Sie machen können.
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3:42 - 3:44Warum also sind wir in dem Gefühl gefangen,
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3:44 - 3:46recht zu haben?
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3:46 - 3:49Ein Grund hat tatsächlich etwas mit dem Gefühl zu tun, sich zu irren.
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3:49 - 3:51Nun, lassen Sie mich etwas fragen –
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3:51 - 3:55oder lassen Sie mich die Frage an Sie richten, weil Sie direkt hier sitzen:
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3:55 - 3:58Wie fühlt es sich an – emotional gesehen –
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3:58 - 4:01wie fühlt es sich an, sich zu irren?
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4:01 - 4:04Fürchterlich. Daumen runter.
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4:04 - 4:06Peinlich. Okay, wunderbar, gut.
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4:06 - 4:08Fürchterlich, Daumen runter, peinlich –
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4:08 - 4:11danke, das sind großartige Antworten,
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4:11 - 4:14aber es sind Antworten auf eine andere Frage.
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4:14 - 4:16Sie beantworten die Frage:
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4:16 - 4:19Wie fühlt es sich an, festzustellen, dass man sich irrt?
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4:19 - 4:23(Lachen)
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4:23 - 4:26Festzustellen, dass man sich irrt, kann sich genau so und noch ganz anders anfühlen, richtig?
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4:26 - 4:29Ich meine, es kann verheerend sein, es kann aufschlussreich sein,
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4:29 - 4:31es kann tatsächlich sehr lustig sein,
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4:31 - 4:34wie mein dummer Irrtum mit dem chinesischen Schriftzeichen.
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4:34 - 4:37Aber sich bloß zu irren,
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4:37 - 4:39fühlt sich nach gar nichts an.
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4:39 - 4:42Ich zeige Ihnen eine Analogie.
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4:42 - 4:44Erinnern Sie sich an den Cartoon „Loony Tunes“,
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4:44 - 4:46mit diesem Mitleid erregenden Kojoten,
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4:46 - 4:48der immer den Rennkuckuck jagt und ihn niemals fängt?
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4:48 - 4:51In so ziemlich jeder Folge von diesem Cartoon
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4:51 - 4:53gibt es den Moment, in dem der Kojote den Rennkuckuck jagt
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4:53 - 4:55und der Rennkuckuck über eine Klippe rennt,
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4:55 - 4:58was okay ist, denn er ist ein Vogel, er kann fliegen.
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4:58 - 5:02Doch die Sache ist, der Kojote rennt gleich nach ihm über die Klippe.
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5:02 - 5:04Und was daran lustig ist –
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5:04 - 5:06zumindest wenn man sechs Jahre alt ist –
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5:06 - 5:08ist, dass das für den Kojoten auch völlig in Ordnung ist.
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5:08 - 5:10Er rennt einfach weiter –
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5:10 - 5:12genau bis zu dem Moment, in dem er nach unten schaut
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5:12 - 5:15und realisiert, dass er in der Luft schwebt.
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5:15 - 5:18Das ist der Moment, in dem er fällt.
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5:19 - 5:21Wenn wir uns bei etwas irren –
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5:21 - 5:24nicht dann, wenn wir es realisieren, sondern davor –
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5:24 - 5:27sind wir wie der Kojote,
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5:27 - 5:30nachdem er über die Klippe gerannt ist und bevor er herunterschaut.
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5:31 - 5:34Wissen Sie, wir irren uns schon,
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5:34 - 5:36wir stecken bereits in Schwierigkeiten,
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5:36 - 5:39aber wir denken, wir befinden uns auf festem Boden.
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5:40 - 5:43Ich sollte also etwas korrigieren, was ich gerade eben gesagt habe.
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5:43 - 5:46Es fühlt sich an wie etwas, wenn wir uns irren;
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5:46 - 5:49es fühlt sich an, als ob wir recht hätten.
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5:49 - 5:52(Lachen)
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5:52 - 5:55Dies ist also ein Grund, ein struktureller Grund,
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5:55 - 5:57warum wir in dem Gefühl, recht zu haben, gefangen sind.
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5:57 - 5:59Ich nenne dies Fehlerblindheit.
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5:59 - 6:01Die meiste Zeit
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6:01 - 6:04verfügen wir nicht über einen internen Fingerzeig,
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6:04 - 6:06der uns darauf hinweist, dass wir uns bei einer Sache irren,
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6:06 - 6:09bis es zu spät ist.
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6:09 - 6:12Aber es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir in diesem Gefühl gefangen sind –
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6:12 - 6:14und dieser ist kulturell.
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6:15 - 6:18Denken Sie kurz an die Grundschule zurück.
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6:18 - 6:20Sie sitzen dort in der Klasse,
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6:20 - 6:23und Ihre Lehrerin gibt Testbögen zurück
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6:23 - 6:25und einer davon sieht aus wie dieser.
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6:25 - 6:27Das ist übrigens nicht meiner.
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6:27 - 6:29(Lachen)
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6:29 - 6:32Sie sind also in der Grundschule,
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6:32 - 6:34und Sie wissen genau, was sie von
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6:34 - 6:37dem Kind halten sollen, das diesen Bogen bekommt.
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6:37 - 6:40Das ist das dumme Kind, das Ärger macht,
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6:40 - 6:43eines, das nie seine Hausaufgaben macht.
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6:43 - 6:46Und wenn Sie neun Jahre alt sind,
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6:46 - 6:48haben Sie erstens schon gelernt,
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6:48 - 6:50dass Menschen, die Sachen falsch machen,
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6:50 - 6:53faule, verantwortungslose Dummköpfe sind –
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6:53 - 6:55und zweitens,
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6:55 - 6:57dass man im Leben erfolgreich ist,
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6:57 - 7:00wenn man keine Fehler macht.
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7:01 - 7:05Wir lernen diese wirklich schlechte Lektion wirklich gut.
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7:06 - 7:08Und viele von uns –
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7:08 - 7:12und ich vermute, besonders viele von uns in diesem Raum –
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7:12 - 7:14reagieren darauf, indem sie einfach
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7:14 - 7:16kleine perfekte Einser-Schüler werden,
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7:16 - 7:19Perfektionisten, Overachiever.
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7:19 - 7:21Nicht wahr,
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7:21 - 7:25Mr. CFO, Astrophysiker, Ultra-Marathonläufer?
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7:25 - 7:32(Lachen)
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7:32 - 7:36Scheinbar sind Sie alle CFOs, Astrophysiker, Ultra-Marathonläufer.
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7:36 - 7:38Das ist okay.
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7:38 - 7:41Außer, dass wir dann ausflippen
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7:41 - 7:43bei der Möglichkeit, uns bei etwas geirrt zu haben.
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7:43 - 7:46Denn gemäß dem hier
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7:46 - 7:48bedeutet, wenn man etwas falsch macht,
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7:48 - 7:51dass etwas mit uns falsch ist.
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7:51 - 7:53Wir bestehen also darauf, dass wir recht haben,
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7:53 - 7:55weil es uns das Gefühl gibt, smart und verantwortlich
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7:55 - 7:58und talentiert und auf der sicheren Seite zu sein.
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7:59 - 8:01Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.
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8:01 - 8:03Vor ein paar Jahren
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8:03 - 8:06kam eine Frau für eine Operation ins Beth Israel Deaconess-Krankenhaus.
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8:06 - 8:08Beth Israel ist in Boston,
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8:08 - 8:10Es ist die Universitätsklinik von Harvard –
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8:10 - 8:12eines der besten Krankenhäuser des Landes.
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8:12 - 8:15Die Frau kommt also an und wird in den OP gebracht.
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8:15 - 8:17Sie wird narkotisiert und der Chirurg macht seine Sache –
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8:17 - 8:20näht sie wieder zu, schickt sie in den Aufwachraum.
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8:20 - 8:23Alles scheint gut gelaufen zu sein.
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8:23 - 8:26Und sie wacht auf und sie schaut an sich herunter
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8:26 - 8:30und sie sagt: „Warum ist die falsche Seite meines Körper verbunden?“
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8:30 - 8:33Nun, die falsche Seite ihres Körpers ist verbunden,
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8:33 - 8:35weil der Chirurg eine große Operation
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8:35 - 8:38an ihrem linken, anstatt an ihrem rechten Bein durchgeführt hat.
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8:39 - 8:42Als der Vize-Direktor für die Qualität der Gesundheitspflege im Beth Israel
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8:42 - 8:45über diesen Vorfall sprach,
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8:45 - 8:48sagte er etwas sehr Interessantes.
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8:48 - 8:51Er sagte: „Warum auch immer,
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8:51 - 8:53der Chirurg dachte einfach,
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8:53 - 8:55auf der richtigen Seite der Patientin zu sein.“
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8:55 - 8:58(Lachen)
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9:00 - 9:02Der Punkt hier ist,
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9:02 - 9:05dass zu viel Vertrauen auf das Gefühl,
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9:05 - 9:08auf der richtigen Seite von irgendetwas zu sein,
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9:08 - 9:11sehr gefährlich sein kann.
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9:11 - 9:14Dieses innere Gefühl der Richtigkeit,
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9:14 - 9:16das wir alle so oft erleben,
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9:16 - 9:18ist keine verlässliche Referenz,
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9:18 - 9:21für das, was tatsächlich in der externen Welt vor sich geht.
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9:21 - 9:23Und wenn wir so tun, als ob es das wäre
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9:23 - 9:27und aufhören, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass wir uns irren könnten,
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9:27 - 9:29nun, dann endet es damit, dass wir Dinge tun,
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9:29 - 9:33wie 200 Millionen Gallonen Öl im Golf von Mexiko zu versenken,
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9:33 - 9:36oder die Weltwirtschaft zu torpedieren.
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9:37 - 9:40Dies ist also ein großes praktisches Problem.
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9:40 - 9:43Es ist aber auch ein großes soziales Problem.
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9:43 - 9:47Denken Sie für einen Moment daran, wie es ist, sich im Recht zu fühlen.
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9:47 - 9:49Es bedeutet, dass Sie denken, dass Ihre Überzeugungen
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9:49 - 9:52einfach perfekt die Realität widerspiegeln.
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9:52 - 9:54Und wenn Sie so fühlen,
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9:54 - 9:56stehen Sie vor einem großen Problem,
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9:56 - 9:58das da wäre: Wie können Sie sich all die Leute erklären,
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9:58 - 10:01die nicht Ihrer Meinung sind?
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10:01 - 10:04Es ist so, die meisten von uns erklären sich diese Leute auf die gleiche Weise,
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10:04 - 10:07indem sie auf eine Reihe von unglücklichen Annahmen zurückgreifen.
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10:08 - 10:11Das erste, was wir machen, wenn man uns nicht zustimmt,
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10:11 - 10:14ist anzunehmen, dass diejenigen ignorant sind.
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10:14 - 10:16Sie haben keinen Zugriff auf dieselben Informationen wie wir
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10:16 - 10:19und wenn wir diese Informationen großzügig mit ihnen teilen,
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10:19 - 10:22werden sie das Licht am Ende des Tunnels erblicken und auf unsere Seite wechseln.
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10:22 - 10:25Wenn das nicht funktioniert,
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10:25 - 10:27wenn sich herausstellt, die Leute haben die gleichen Fakten wie wir
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10:27 - 10:29und sie stimmen uns immer noch nicht zu,
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10:29 - 10:31dann gehen wir über zu einer zweiten Annahme,
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10:31 - 10:33die lautet, dass sie Idioten sind.
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10:33 - 10:35(Lachen)
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10:35 - 10:37Sie haben alle passenden Puzzlestücke
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10:37 - 10:40und sie sind geistig nicht dazu in der Lage, sie korrekt zusammenzusetzen.
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10:40 - 10:42Und wenn das nicht funktioniert,
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10:42 - 10:45wenn sich herausstellt, dass Leute, die uns nicht zustimmen,
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10:45 - 10:47die gleichen Fakten haben wie wir
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10:47 - 10:50und auch noch ziemlich klug sind,
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10:50 - 10:53dann gehen wir über zu einer dritten Annahme:
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10:53 - 10:56Sie kennen die Wahrheit
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10:56 - 10:58und sie verzerren sie absichtlich
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10:58 - 11:01für ihre eigenen bösartigen Absichten.
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11:02 - 11:04Das ist eine Katastrophe.
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11:04 - 11:07Diese Treue zu unserer eigenen Richtigkeit
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11:07 - 11:09hält uns davon ab, Fehler zu vermeiden,
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11:09 - 11:11wenn es wirklich notwendig ist
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11:11 - 11:14und bringt uns dazu, einander schrecklich zu behandeln.
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11:15 - 11:17Was aber für mich das Erstaunlichste
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11:17 - 11:20und Tragischste daran ist,
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11:20 - 11:24ist, dass es den Kern des Menschseins nicht gerecht wird.
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11:24 - 11:26Es ist, als ob wir uns vorstellen wollen,
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11:26 - 11:29dass unser Geist ein absolut durchsichtiges Fenster ist
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11:29 - 11:31und wir einfach hindurch nach draußen sehen
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11:31 - 11:34und die Welt beschreiben, wie sie sich vor uns entfaltet.
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11:34 - 11:36Und wir wollen, dass alle anderen auch durch dieses gleiche Fenster schauen
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11:36 - 11:38und exakt die gleiche Sache sehen.
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11:38 - 11:40Dem ist aber nicht so
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11:40 - 11:43und wenn es so wäre, dann wäre das Leben unglaublich langweilig.
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11:43 - 11:46Das Wunder Ihres Geists
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11:46 - 11:49ist nicht, dass Sie die Welt sehen können, wie sie ist.
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11:50 - 11:53Es ist, dass Sie die Welt sehen können, wie sie nicht ist.
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11:54 - 11:56Wir können uns an die Vergangenheit erinnern
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11:56 - 11:59und wir können über die Zukunft nachdenken
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11:59 - 12:01und wir können uns vorstellen, wie es ist,
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12:01 - 12:04eine andere Person an einem anderen Ort zu sein.
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12:04 - 12:06Und wir alle machen das ein wenig anders
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12:06 - 12:08und deswegen können wir alle in den gleichen Nachthimmel schauen
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12:08 - 12:10und dies sehen
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12:10 - 12:12und auch das
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12:12 - 12:15und auch dieses hier.
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12:15 - 12:18Und ja, das ist auch der Grund, warum wir Dinge falsch verstehen.
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12:19 - 12:211.200 Jahre bevor Descartes seine berühmte Sache sagte
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12:21 - 12:23von wegen, „Ich denke, also bin ich“,
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12:23 - 12:25setzte sich dieser Mann namens St. Augustinus hin
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12:25 - 12:28und schrieb, „Fallor ergo sum“ –
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12:28 - 12:32„Ich irre, also bin ich.“
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12:32 - 12:34Augustinus verstand,
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12:34 - 12:36dass unsere Fähigkeit, Dinge zu vergeigen,
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12:36 - 12:38keine Art von peinlichem Defekt ist
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12:38 - 12:40im menschlichen System,
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12:40 - 12:43etwas, das wir ausrotten oder überwinden können.
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12:43 - 12:46Es ist ein absolut fundamentaler Teil unseres Selbst.
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12:46 - 12:48Denn anders als Gott
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12:48 - 12:51haben wir nicht wirklich eine Ahnung von dem, was hier abläuft.
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12:51 - 12:54Und anders als alle anderen Tiere
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12:54 - 12:58sind wir davon besessen, zu versuchen, es herauszufinden.
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12:58 - 13:00Für mich ist diese Besessenheit
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13:00 - 13:02die Quelle und Wurzel
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13:02 - 13:05von all unserer Produktivität und Kreativität.
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13:05 - 13:08Aus verschiedenen Gründen hörte ich letztes Jahr
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13:08 - 13:10viele Folgen
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13:10 - 13:12der öffentlichen Radio-Sendung „This American Life“ an.
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13:12 - 13:15Und ich höre also und höre
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13:15 - 13:18und an einem Punkt bekomme ich das Gefühl,
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13:18 - 13:21irgendwie handeln alle Geschichten davon, dass man falsch liegt.
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13:22 - 13:24Und mein erster Gedanke war,
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13:24 - 13:26„Das wars.
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13:26 - 13:28Ich bin die verrückte Irrtums-Lady geworden.
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13:28 - 13:30Ich sehe es einfach überall.“,
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13:30 - 13:32was auch so passiert ist.
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13:32 - 13:34Aber ein paar Monate später
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13:34 - 13:36hatte ich die Möglichkeit, Ira Glass, den Moderator der Sendung, zu interviewen.
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13:36 - 13:38Und ich erwähnte dies ihm gegenüber
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13:38 - 13:41und er antwortete: „Nein, das ist wirklich wahr.
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13:41 - 13:43Tatsächlich“, sagte er,
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13:43 - 13:45„witzelt das Team darüber,
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13:45 - 13:47dass jede einzelne Folge unserer Sendung
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13:47 - 13:50das gleiche Geheimthema hat.
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13:50 - 13:52Und das Geheimthema lautet:
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13:52 - 13:55'Ich dachte, diese eine Sache würde passieren
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13:55 - 13:58und dann ist etwas anderes stattdessen passiert.'
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13:58 - 14:01Und die Tatsache ist“, sagt Ira Glass, „wir brauchen das.
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14:01 - 14:03Wir brauchen diese Momente
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14:03 - 14:05der Überraschung und Umkehr und des Irrtums,
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14:05 - 14:07um diese Geschichten erzählen zu können.“
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14:07 - 14:09Und die Übrigen unter uns, Anwesende,
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14:09 - 14:12als Zuhörer, als Leser,
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14:12 - 14:14wir saugen dieses Zeug auf.
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14:14 - 14:17Wir lieben Sachen wie verdrehte Handlungen
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14:17 - 14:20und falsche Fährten und ein überraschendes Ende.
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14:20 - 14:23Wenn es um unsere Geschichten geht,
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14:23 - 14:26lieben wir es, uns zu irren.
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14:26 - 14:28Aber, wissen Sie, unsere Geschichten sind so,
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14:28 - 14:31weil unser Leben so ist.
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14:31 - 14:34Wir denken, diese eine Sache wird passieren
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14:34 - 14:37und irgendetwas anderes passiert statt dessen.
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14:37 - 14:39George Bush dachte, er würde in den Irak einmarschieren,
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14:39 - 14:41einen Haufen Massenvernichtungswaffen finden,
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14:41 - 14:44das Volk befreien und Demokratie in den Mittleren Osten bringen.
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14:45 - 14:47Und etwas anderes ist statt dessen passiert.
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14:48 - 14:50Und Hosni Mubarak
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14:50 - 14:52dachte, er würde für den Rest seines Lebens Diktator in Ägypten sein,
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14:52 - 14:54bis er zu alt oder zu krank wäre
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14:54 - 14:57und seine Herrschaft an seinen Sohn weitergeben könnte.
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14:57 - 15:00Und etwas anderes ist statt dessen passiert.
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15:01 - 15:03Und vielleicht haben Sie gedacht,
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15:03 - 15:05Sie würden aufwachsen und ihre erste Liebe aus der Schulzeit heiraten
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15:05 - 15:08und in Ihre Heimatstadt zurückziehen und zusammen eine paar Kinder großziehen.
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15:09 - 15:12Und etwas anderes ist statt dessen passiert.
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15:12 - 15:14Und ich muss Ihnen erzählen,
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15:14 - 15:16dass ich dachte, ich schreibe dieses unglaublich nerdige Buch
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15:16 - 15:18über ein Thema, dass alle hassen,
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15:18 - 15:21für ein Publikum, das es niemals geben würde.
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15:21 - 15:23Und etwas anderes ist statt dessen passiert.
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15:23 - 15:25(Lachen)
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15:25 - 15:27Ich meine, so ist das Leben.
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15:27 - 15:29Im Guten wie im Schlechten,
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15:29 - 15:32wir produzieren diese unglaublichen Geschichten
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15:32 - 15:34über die Welt um uns herum,
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15:34 - 15:37und dann dreht sich die Welt um und überrascht uns.
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15:40 - 15:43Nichts für ungut, aber diese gesamte Konferenz
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15:43 - 15:45ist ein unglaubliches Denkmal
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15:45 - 15:47unserer Fähigkeit, Sachen falsch zu machen.
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15:47 - 15:49Wir haben gerade eben eine ganze Woche damit verbracht,
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15:49 - 15:51über Erfindungen und Fortschritte
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15:51 - 15:53und Verbesserungen zu sprechen,
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15:53 - 15:56aber wissen Sie, warum wir all diese Erfindungen
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15:56 - 15:58und Fortschritte und Verbesserungen benötigen?
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15:58 - 16:00Weil die Hälfte von dem,
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16:00 - 16:03was am verblüffendsten und revolutionärsten ist –
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16:03 - 16:05TED 1998 –
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16:05 - 16:07nicht wahr.
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16:07 - 16:11(Lachen)
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16:11 - 16:13Hat irgendwie nicht geklappt, oder?
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16:13 - 16:15(Lachen)
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16:15 - 16:18Wo ist mein Jetpack, Chris?
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16:18 - 16:22(Lachen)
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16:22 - 16:27(Applaus)
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16:27 - 16:30Nun sind wir also wieder hier.
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16:30 - 16:32Und so läuft der Hase.
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16:32 - 16:34Wir entwickeln eine andere Idee.
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16:34 - 16:37Wir erzählen eine andere Geschichte.
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16:37 - 16:40Wir veranstalten eine andere Konferenz.
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16:40 - 16:42Das Thema von dieser,
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16:42 - 16:44wie Sie alle mittlerweile sieben Millionen Mal gehört haben,
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16:44 - 16:46ist die Wiederentdeckung der Verwunderung.
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16:46 - 16:48Und für mich heißt das,
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16:48 - 16:51wenn Sie wirklich die Verwunderung wiederentdecken wollen,
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16:51 - 16:53müssen Sie heraustreten
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16:53 - 16:59aus Ihrem kleinen, in Angst erstarrten Raum der Richtigkeit
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16:59 - 17:02und sich gegenseitig anschauen
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17:02 - 17:05und in die Weite
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17:05 - 17:08und Komplexität und in das Rätsel
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17:08 - 17:11des Universums hinausblicken
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17:11 - 17:14und in der Lage sein, zu sagen,
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17:14 - 17:18„Wow, ich habe keine Ahnung.
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17:18 - 17:20Vielleicht irre ich mich."
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17:20 - 17:22Vielen Dank.
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17:22 - 17:25(Applaus)
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17:25 - 17:27Vielen Dank, Leute.
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17:27 - 17:30(Applaus)
- Title:
- Kathryn Schulz: Über das Irren
- Speaker:
- Kathryn Schulz
- Description:
-
Die meisten von uns werden alles dafür tun, um zu vermeiden, dass sie sich irren. Aber was ist daran so schlimm? „Irrologin" Kathryn Schulz liefert verblüffende Argumente dafür, dass wir uns unsere Fehlbarkeit nicht nur eingestehen, sondern sie auch annehmen sollten.
- Video Language:
- English
- Team:
closed TED
- Project:
- TEDTalks
- Duration:
- 17:31