< Return to Video

Oliver Sacks: Was Halluzinationen über unsere Psyche enthüllen.

  • 0:00 - 0:03
    Wir sehen mit den Augen.
  • 0:03 - 0:06
    Aber ebenso sehen wir mit dem Gehirn.
  • 0:06 - 0:10
    Und das Sehen mit dem Gehirn wird oft als Phantasie bezeichnet.
  • 0:10 - 0:15
    Und die Landschaften unserer Phantasie sind uns vertraut.
  • 0:15 - 0:19
    Wir verbringen unser ganzes Leben mit ihnen.
  • 0:19 - 0:23
    Aber es gibt auch Halluzinationen.
  • 0:23 - 0:26
    Und Halluzinationen sind völlig anders.
  • 0:26 - 0:28
    Sie scheinen nicht unsere eigene Schöpfung zu sein.
  • 0:28 - 0:30
    Wir können sie anscheinend nicht kontrollieren.
  • 0:30 - 0:32
    Sie scheinen von außen zu kommen,
  • 0:32 - 0:35
    und sie imitieren scheinbar die reale Wahrnehmung.
  • 0:35 - 0:39
    Ich werde also über Halluzinationen sprechen.
  • 0:39 - 0:43
    Und zwar über eine besondere Form von visuellen Halluzinationen,
  • 0:43 - 0:48
    die bei meinen Patienten auftritt.
  • 0:48 - 0:52
    Vor ein paar Monaten bekam ich einen Anruf
  • 0:52 - 0:54
    aus einem Pflegeheim, in dem ich arbeite.
  • 0:54 - 0:59
    Sie sagten mir, dass eine der Bewohnerinnen, eine über 90 Jahre alte Dame,
  • 0:59 - 1:01
    Dinge sah.
  • 1:01 - 1:04
    Und sie haben sich gefragt, ob sie jetzt übergeschnappt ist.
  • 1:04 - 1:06
    Oder, weil sie ja eine alte Dame war,
  • 1:06 - 1:09
    ob sie einen Schlaganfall oder Alzheimer hatte.
  • 1:09 - 1:14
    Also fragten Sie mich, ob ich kommen und einen Blick auf Rosalie,
  • 1:14 - 1:16
    die alte Dame, werfen könnte.
  • 1:16 - 1:18
    Ich ging also hin.
  • 1:18 - 1:20
    Es war sofort klar,
  • 1:20 - 1:23
    dass Sie geistig völlig gesund,
  • 1:23 - 1:26
    bei klarem Verstand und recht intelligent war.
  • 1:26 - 1:30
    Aber sie war ziemlich erschrocken und verwirrt
  • 1:30 - 1:33
    weil sie etwas gesehen hatte.
  • 1:33 - 1:36
    Und sie sagte mir --
  • 1:36 - 1:38
    das hatten die Schwestern nicht erwähnt --
  • 1:38 - 1:40
    dass sie blind war,
  • 1:40 - 1:45
    völlig blind aufgrund einer Makuladegeneration, seit fünf Jahren.
  • 1:45 - 1:48
    Aber jetzt, seit einigen Tagen, hatte sie wieder etwas gesehen.
  • 1:48 - 1:51
    Also fragte ich: "Was haben Sie gesehen?"
  • 1:51 - 1:54
    Und sie sagte: "Leute in orientalischer Kleidung,
  • 1:54 - 1:58
    im Schleier, die Treppen auf und ab gehen.
  • 1:58 - 2:01
    Ein Mann dreht sich zu mir um und lächelt.
  • 2:01 - 2:05
    Aber er hat auf einer Seite seines Mundes riesige Zähne.
  • 2:05 - 2:07
    Und auch Tiere.
  • 2:07 - 2:10
    Ich sehe ein weißes Gebäude. Es schneit weichen Schnee.
  • 2:10 - 2:15
    Ich sehe dieses Pferd mit Geschirr, das den Schnee wegzieht.
  • 2:15 - 2:19
    Und eines Nachts ändern sich die Bilder.
  • 2:19 - 2:21
    Ich sehe Katzen und Hunde auf mich zukommen.
  • 2:21 - 2:24
    Sie kommen bis zu einer bestimmten Stelle und bleiben dann stehen.
  • 2:24 - 2:26
    Dann verändert es sich wieder.
  • 2:26 - 2:29
    Ich sehe viele Kinder. Sie gehen Treppen auf und ab.
  • 2:29 - 2:32
    Sie sind leuchtend bunt gekleidet, rosa und blau,
  • 2:32 - 2:35
    wie im Orient."
  • 2:35 - 2:38
    Manchmal, so sagte sie, sind es vor den Leuten
  • 2:38 - 2:42
    rosa und blaue Quadrate auf dem Boden, die sie halluziniert,
  • 2:42 - 2:45
    und die scheinen zur Decke hinaufzugehen.
  • 2:45 - 2:49
    Ich sagte: "Ist das so wie ein Traum?"
  • 2:49 - 2:52
    Und sie sagte: "Nein, es ist nicht wie ein Traum. Es ist wie ein Film."
  • 2:52 - 2:55
    Sie sagte: "Es ist in Farbe. Es bewegt sich.
  • 2:55 - 2:59
    Aber es ist ganz still, wie ein Stummfilm."
  • 2:59 - 3:01
    Und sie sagte, dass es ein ziemlich langweiliger Film ist.
  • 3:01 - 3:04
    Sie sagte: "Diese ganzen Leute in orientalischer Kleidung,
  • 3:04 - 3:09
    die rauf und runter laufen - immer das Gleiche, ziemlich dröge."
  • 3:09 - 3:11
    (Gelächter)
  • 3:11 - 3:13
    Und sie hatte Sinn für Humor.
  • 3:13 - 3:15
    Sie wusste, dass es eine Halluzination war.
  • 3:15 - 3:17
    Aber sie hatte Angst. Sie war 95 Jahre alt
  • 3:17 - 3:20
    und hatte noch nie zuvor Halluzinationen.
  • 3:20 - 3:23
    Sie sagte, dass die Halluzinationen überhaupt nichts
  • 3:23 - 3:27
    damit zu tun hatten, was sie dachte, fühlte oder tat.
  • 3:27 - 3:31
    Dass sie ganz von selbst zu kommen und zu gehen schienen.
  • 3:31 - 3:33
    Sie konnte sie nicht kontrollieren.
  • 3:33 - 3:35
    Sie sagte, sie würde keinen
  • 3:35 - 3:37
    der Menschen oder Orte
  • 3:37 - 3:39
    in den Halluzinationen erkennen.
  • 3:39 - 3:41
    Und keiner der Menschen und keins der Tiere,
  • 3:41 - 3:45
    naja, sie schienen sie gar nicht zu bemerken.
  • 3:45 - 3:47
    Und sie wusste nicht, was los war.
  • 3:47 - 3:49
    Sie fragte sich, ob sie verrückt wurde
  • 3:49 - 3:51
    oder den Verstand verlor.
  • 3:51 - 3:53
    Ich untersuchte sie also eingehend.
  • 3:53 - 3:55
    Sie war eine aufgeweckte alte Dame.
  • 3:55 - 3:59
    Geistig völlig klar. Sie hatte keine medizinischen Probleme.
  • 3:59 - 4:03
    Sie nahm keinerlei Medikamente, die Halluzinationen hervorrufen konnten.
  • 4:03 - 4:05
    Aber sie war blind.
  • 4:05 - 4:07
    Und dann sagte ich zu ihr:
  • 4:07 - 4:09
    "Ich glaube, ich weiß, was sie haben."
  • 4:09 - 4:13
    Ich sagte, "Es gibt eine besondere Form visueller Halluzinationen,
  • 4:13 - 4:17
    die mit nachlassender Sehfähigkeit oder Blindheit einhergehen."
  • 4:17 - 4:20
    "Ursprünglich", sagte ich, "wurden sie
  • 4:20 - 4:22
    schon im 18. Jahrhundert von einem Mann
  • 4:22 - 4:25
    namens Charles Bonnet beschrieben.
  • 4:25 - 4:28
    Und sie haben das Charles-Bonnet-Syndrom.
  • 4:28 - 4:30
    Mit Ihrem Gehirn ist alles in Ordnung. Mit Ihrem Verstand ist alles in Ordnung.
  • 4:30 - 4:33
    Sie haben das Charles-Bonnet-Syndrom."
  • 4:33 - 4:36
    Und sie war sehr erleichtert darüber,
  • 4:36 - 4:40
    dass es kein ernstes Problem war,
  • 4:40 - 4:43
    und außerdem sehr neugierig.
  • 4:43 - 4:45
    Sie fragte: "Wer ist dieser Charles Bonnet?"
  • 4:45 - 4:48
    Sie sagte: "Hatte er das selbst auch?"
  • 4:48 - 4:51
    Und sie sagte: "Sagen sie allen Schwestern,
  • 4:51 - 4:54
    dass ich das Charles-Bonnet-Syndrom habe."
  • 4:54 - 4:56
    (Gelächter)
  • 4:56 - 5:00
    "Ich bin nicht verrückt. Ich bin nicht verkalkt. Ich habe das Charles-Bonnet-Syndrom.
  • 5:00 - 5:02
    Also sagte ich den Schwestern das.
  • 5:02 - 5:05
    Nun, für mich ist das eine alltägliche Situation.
  • 5:05 - 5:07
    Ich arbeite fast ständig in Altersheimen.
  • 5:07 - 5:09
    Ich treffe eine Menge alte Leute,
  • 5:09 - 5:13
    die hör- oder sehbehindert sind.
  • 5:13 - 5:15
    Etwa zehn Prozent der Hörbehinderten
  • 5:15 - 5:18
    haben musikalische Halluzinationen.
  • 5:18 - 5:21
    Und etwa zehn Prozent der Sehbehinderten
  • 5:21 - 5:23
    haben visuelle Halluzinationen.
  • 5:23 - 5:25
    Man muss nicht völlig blind sein,
  • 5:25 - 5:27
    nur hinreichend behindert.
  • 5:27 - 5:31
    Was die erste Beschreibung im 18. Jahrhundert angeht,
  • 5:31 - 5:33
    so hatte Charles Bonnet sie nicht.
  • 5:33 - 5:36
    Sein Großvater hatte diese Halluzinationen.
  • 5:36 - 5:39
    Sein Großvater war ein Beamter, ein älterer Herr.
  • 5:39 - 5:42
    Er war wegen seines grauen Stars operiert worden.
  • 5:42 - 5:44
    Er sah ziemlich schlecht.
  • 5:44 - 5:49
    Und im Jahre 1759 beschrieb er seinem Enkel
  • 5:49 - 5:51
    verschiedene Dinge, die er sah.
  • 5:51 - 5:53
    Das Erste, was er sah,
  • 5:53 - 5:55
    war ein schwebendes Taschentuch.
  • 5:55 - 5:57
    Es war ein großes blaues Taschentuch
  • 5:57 - 5:59
    mit vier orangen Kreisen.
  • 5:59 - 6:02
    Und er wusste, dass es eine Halluziantion war.
  • 6:02 - 6:04
    Taschentücher schweben nicht einfach so herum.
  • 6:04 - 6:08
    Und dann sah er ein große, schwebendes Rad.
  • 6:08 - 6:13
    Aber manchmal war er nicht sicher, ob er halluzinierte oder nicht.
  • 6:13 - 6:15
    Denn die Halluzinationen passten
  • 6:15 - 6:17
    zum Kontext dessen, was er sah.
  • 6:17 - 6:20
    Einmal zum Beispiel, als seine Enkelinnen ihn besuchten,
  • 6:20 - 6:25
    sagte er: "Und wer sind diese gutaussehenden jungen Männer?"
  • 6:25 - 6:29
    Und sie sagten: "Ach, Opa, es sind leider keine gutaussehenden jungen Männer da."
  • 6:29 - 6:33
    Und da verschwanden die jungen Männer.
  • 6:33 - 6:36
    Es ist typisch für diese Halluzinationen
  • 6:36 - 6:39
    dass sie schlagartig kommen und gehen können.
  • 6:39 - 6:41
    Sie blenden sich nicht langsam ein oder aus.
  • 6:41 - 6:44
    Sie kommen ziemlich plötzlich. Und sie verändern sich unvermittelt.
  • 6:44 - 6:47
    Charles Lullin, der Großvater,
  • 6:47 - 6:50
    sah hunderte verschiedener Gestalten,
  • 6:50 - 6:52
    viele verschiedene Landschaften.
  • 6:52 - 6:56
    Einmal sah er einen Mann im Bademantel, der eine Pfeife rauchte,
  • 6:56 - 6:59
    und erkannte, dass er sich selbst sah.
  • 6:59 - 7:02
    Das war die einzige Gestalt, die er erkannte.
  • 7:02 - 7:06
    Während er einmal durch die Straßen von Paris ging,
  • 7:06 - 7:09
    sah er – das war real – ein Gerüst.
  • 7:09 - 7:12
    Aber als er zurück nach Hause kam, sah er ein 15 Zentimeter hohes
  • 7:12 - 7:16
    Modell des Gerüsts auf seinem Schreibtisch.
  • 7:16 - 7:19
    Diese Wiederholung der Wahrnehmung
  • 7:19 - 7:21
    wird manchmal Palinopsie genannt.
  • 7:21 - 7:26
    Was bei ihm und bei Rosalie,
  • 7:26 - 7:28
    anscheinend passiert –
  • 7:28 - 7:30
    und Rosalie fragte: "Was passiert da?" –
  • 7:30 - 7:33
    und ich sagte, dass, wenn man die Sehkraft verliert,
  • 7:33 - 7:36
    wenn die Sehzentren im Gehirn keine Signale mehr bekommen,
  • 7:36 - 7:39
    dass sie hyperaktiv und erregbar werden.
  • 7:39 - 7:41
    Und sie fangen an, spontan zu feuern.
  • 7:41 - 7:44
    Und man fängt an, Dinge zu sehen.
  • 7:44 - 7:47
    Die Dinge, die man sieht, können sogar recht kompliziert sein.
  • 7:47 - 7:51
    Bei einer meiner anderen Patienteninnen,
  • 7:51 - 7:53
    die, [genau wie Charles Lullin noch] etwas Sehkraft besaß,
  • 7:53 - 7:57
    konnten die Visionen beunruhigend sein.
  • 7:57 - 8:00
    Einmal sagte sie, sie sähe
  • 8:00 - 8:03
    einen Mann in einem gestreiften Hemd in einem Restaurant.
  • 8:03 - 8:05
    Und er drehte sich um. Und dann
  • 8:05 - 8:08
    teilte er sich in sechs identische Männer in gestreiften Hemden,
  • 8:08 - 8:11
    die auf sie zu kamen.
  • 8:11 - 8:14
    Und dann vereinigten sich die sechs Männer wieder, wie eine Ziehharmonika.
  • 8:14 - 8:16
    Als sie einmal mit dem Auto fuhr,
  • 8:16 - 8:18
    das heißt, natürlich fuhr ihr Ehemann,
  • 8:18 - 8:20
    teilte sich die Straße in vier Teile.
  • 8:20 - 8:24
    Und sie spürte, wie sie gleichzeitig vier Straßen entlangfuhr.
  • 8:24 - 8:29
    Sie hatte auch sehr mobile Halluzinationen.
  • 8:29 - 8:32
    Viele davon hatten mit Autos zu tun.
  • 8:32 - 8:34
    Manchmal sah sie einen jungen Burschen
  • 8:34 - 8:37
    auf der Kühlerhaube des Autos sitzen.
  • 8:37 - 8:39
    Er war sehr beharrlich und bewegte sich ziemlich geschickt
  • 8:39 - 8:41
    wenn das Auto in eine Kurve fuhr.
  • 8:41 - 8:44
    Und dann, wenn sie stehen blieben,
  • 8:44 - 8:47
    flog der Junge plötzlich senkrecht nach oben, 30 Meter hoch,
  • 8:47 - 8:50
    und verschwand.
  • 8:50 - 8:55
    Eine andere Patientin von mir hatte Halluzinationen anderer Art.
  • 8:55 - 8:58
    Diese Frau hatte keine Probleme mit den Augen,
  • 8:58 - 9:00
    sondern mit den Sehzentren ihres Gehirns.
  • 9:00 - 9:03
    Ein kleiner Tumor im Okzipitallappen.
  • 9:03 - 9:08
    Und das Beste war, dass sie Cartoons sah.
  • 9:08 - 9:13
    Diese Cartoons waren durchsichtig
  • 9:13 - 9:16
    und nahmen die Hälfte ihres Sichtfeldes ein, wie eine Leinwand.
  • 9:16 - 9:22
    Und insbesondere sah sie Cartoons mit Kermit dem Frosch.
  • 9:22 - 9:23
    (Gelächter)
  • 9:23 - 9:26
    Also, ich schaue kaum Sesamstraße.
  • 9:26 - 9:29
    Aber sie sagte immer wieder:
  • 9:29 - 9:33
    "Warum Kermit?" Sie sagte: "Kermit der Frosch bedeutet mir nichts.
  • 9:33 - 9:36
    Wissen sie, ich habe über freudsche Einflüsse nachgedacht.
  • 9:36 - 9:38
    Warum Kermit?
  • 9:38 - 9:40
    Kermit der Frosch bedeutet mir gar nichts."
  • 9:40 - 9:42
    Die Cartoons störten sie nicht besonders.
  • 9:42 - 9:46
    Aber was sie beunruhigte, war, dass sie recht hartnäckige
  • 9:46 - 9:49
    Bilder oder Halluzinationen von Gesichtern sah,
  • 9:49 - 9:52
    und wie bei Rosalie waren die Gesichter oft entstellt,
  • 9:52 - 9:56
    mit riesigen Zähnen oder riesigen Augen.
  • 9:56 - 9:59
    Und die machten ihr Angst.
  • 9:59 - 10:03
    Also, was ist nun los mit diesen Leuten?
  • 10:03 - 10:06
    Als Mediziner habe ich versucht, zu bestimmen, was da passiert,
  • 10:06 - 10:08
    und die Leute dadurch zu beruhigen.
  • 10:08 - 10:12
    Vor allem wollte ich ihnen klar machen, dass sie nicht verrückt wurden.
  • 10:12 - 10:15
    Wie ich schon sagte: Etwa zehn Prozent
  • 10:15 - 10:18
    der sehbehinderten Menschen haben diese Halluzinationen.
  • 10:18 - 10:22
    Aber höchstens ein Prozent gibt das zu.
  • 10:22 - 10:25
    Weil sie Angst haben, dass man sie für verrückt hält oder sowas.
  • 10:25 - 10:27
    Und wenn sie mit ihren Ärzten davon sprechen,
  • 10:27 - 10:30
    könnten sie falsch diagnostiziert werden.
  • 10:30 - 10:32
    Allgemein meint man eben, wenn jemand Dinge
  • 10:32 - 10:35
    sieht oder hört, dann wird er verrückt.
  • 10:35 - 10:38
    Aber psychotische Halluzinationen sind ganz anders.
  • 10:38 - 10:41
    Psychotische Halluzinationen, ob sie nun visuell sind oder auditiv,
  • 10:41 - 10:43
    sprechen dich an. Sie klagen dich an.
  • 10:43 - 10:45
    Sie verführen dich. Sie demütigen dich.
  • 10:45 - 10:48
    Sie verspotten dich.
  • 10:48 - 10:50
    Man interagiert mit ihnen.
  • 10:50 - 10:53
    Diese Eigenschaften eines Dialogs
  • 10:53 - 10:56
    gibt es bei diesen Charles-Bonnet-Halluzinationen nicht.
  • 10:56 - 11:00
    Es ist ein Film. Man sieht einen Film, der nichts mit einem selbst zu tun hat.
  • 11:00 - 11:03
    Jedenfalls empfinden die Leute das so.
  • 11:03 - 11:07
    Es gibt auch eine seltene Sache namens Temporallappenepilepsie.
  • 11:07 - 11:10
    Und manchmal, wenn man das hat,
  • 11:10 - 11:12
    dann fühlt man sich an einen Ort in
  • 11:12 - 11:15
    der Vergangenheit zurückversetzt.
  • 11:15 - 11:17
    Man steht an einer bestimmten Straßenkreuzung.
  • 11:17 - 11:19
    Man riecht Röstkastanien.
  • 11:19 - 11:22
    Man hört den Verkehrslärm. Alle Sinne sind beteiligt.
  • 11:22 - 11:24
    Und man wartet auf seine Freundin.
  • 11:24 - 11:28
    Und es ist dieser Dienstagabend im Jahr 1982.
  • 11:28 - 11:30
    Und die Temporallappenhalluzinationen
  • 11:30 - 11:32
    sind immer multisensorische Halluzinationen,
  • 11:32 - 11:35
    voller Gefühl, voller Vertrautheit,
  • 11:35 - 11:37
    in Raum und Zeit genau bestimmt,
  • 11:37 - 11:39
    schlüssig, dramatisch.
  • 11:39 - 11:42
    Bei Charles Bonnet ist das ganz anders.
  • 11:42 - 11:46
    Bei den Charles-Bonnet-Halluzinationen
  • 11:46 - 11:48
    gibt es verschiedene Ebenen,
  • 11:48 - 11:50
    von den geometrischen Halluzinationen,
  • 11:50 - 11:53
    den rosa und blauen Quadraten, die die Frau sah,
  • 11:53 - 11:57
    bis hin zu ziemlich komplexen Halluzinationen
  • 11:57 - 12:00
    mit Personen und insbesondere Gesichtern.
  • 12:00 - 12:03
    Gesichter, und manchmal entstellte Gesichter,
  • 12:03 - 12:06
    sind das, was in diesen Halluzinationen
  • 12:06 - 12:08
    am häufigsten auftritt.
  • 12:08 - 12:11
    Und mit die zweithäufigsten sind Cartoons.
  • 12:11 - 12:14
    Also, was passiert da?
  • 12:14 - 12:16
    Faszinierenderweise ist es seit einigen Jahren
  • 12:16 - 12:20
    möglich, Gehirnfunktionen bildlich darzustellen,
  • 12:20 - 12:24
    und man kann das fMRI-Verfahren bei halluzinierenden Menschen anwenden.
  • 12:24 - 12:28
    Und so findet man heraus, dass verschiedene Teile
  • 12:28 - 12:31
    des Sehzentrums aktiviert werden
  • 12:31 - 12:33
    während sie halluzinieren.
  • 12:33 - 12:36
    Wenn die Leute diese einfachen geometrische Halluzinationen haben,
  • 12:36 - 12:40
    ist die primäre visuelle Rinde aktiv.
  • 12:40 - 12:43
    Das ist der Teil des Gehirns, der Kanten und Muster wahrnimmt.
  • 12:43 - 12:47
    In der primären visuellen Rinde entstehen noch keine Bilder.
  • 12:47 - 12:50
    Wenn Bilder entstehen,
  • 12:50 - 12:52
    ist ein höherer Bereich des visuellen Cortex
  • 12:52 - 12:54
    im Temporallappen beteiligt.
  • 12:54 - 12:59
    Ein spezieller Bereich des Temporallappens wird
  • 12:59 - 13:01
    als Gyrus fusiformis bezeichnet.
  • 13:01 - 13:05
    Und man weiß, dass Menschen, deren Gyrus fusiformis beschädigt ist,
  • 13:05 - 13:09
    manchmal die Fähigkeit verlieren, Gesichter zu erkennen.
  • 13:09 - 13:13
    Aber wenn es abnorme Aktivität im Gyrus fusiformis gibt,
  • 13:13 - 13:15
    dann kann man Gesichter halluzinieren.
  • 13:15 - 13:18
    Und genau das stellt man bei manchen dieser Menschen fest.
  • 13:18 - 13:22
    Es gibt einen Bereich im anterioren Teil dieses Gyrus,
  • 13:22 - 13:27
    in dem Zähne und Augen repräsentiert werden.
  • 13:27 - 13:30
    Und dieser Teil des Gyrus ist aktiv,
  • 13:30 - 13:34
    wenn die Leute die entstellten Halluzinationen haben.
  • 13:34 - 13:36
    Es gibt einen weiteren Bereich des Gehirns,
  • 13:36 - 13:38
    der dann besonders aktiv ist,
  • 13:38 - 13:40
    wenn man Cartoons sieht.
  • 13:40 - 13:43
    Er ist aktiv, wenn man Cartoons erkennt,
  • 13:43 - 13:47
    wenn man Cartoons zeichnet und wenn man sie halluziniert.
  • 13:47 - 13:50
    Das ist ziemlich interessant, dass das eine spezielle Gehirnfunktion ist.
  • 13:50 - 13:53
    Es gibt andere Gehirnbereiche, die besonders
  • 13:53 - 13:55
    an der Erkennung und Halluzination
  • 13:55 - 13:58
    von Gebäuden und Landschaften beteiligt sind.
  • 13:58 - 14:01
    Ungefähr 1970 hat man herausgefunden, dass nicht nur bestimmte Gehirnbereiche,
  • 14:01 - 14:03
    sondern bestimmte Zellen [beteiligt sind].
  • 14:03 - 14:08
    "Gesichtsneuronen" wurden um 1970 entdeckt.
  • 14:08 - 14:10
    Und heute wissen wir, dass es hunderte anderer
  • 14:10 - 14:12
    Arten von Zellen gibt,
  • 14:12 - 14:14
    die sehr sehr spezifische Aufgaben haben können.
  • 14:14 - 14:16
    Man kann also nicht nur
  • 14:16 - 14:18
    "Autoneuronen" haben,
  • 14:18 - 14:21
    man hat vielleicht "Aston-Martin-Neuronen"
  • 14:21 - 14:23
    (Gelächter)
  • 14:23 - 14:25
    Ich habe heute früh einen Aston Martin gesehen.
  • 14:25 - 14:27
    Ich musste ihn unterbringen.
  • 14:27 - 14:30
    Und jetzt ist er irgendwo da drin.
  • 14:30 - 14:33
    (Gelächter)
  • 14:33 - 14:37
    Also, auf dieser Ebene, im sogenannten inferotemporalen Kortex,
  • 14:37 - 14:40
    gibt es nur visuelle Bilder
  • 14:40 - 14:43
    oder Phantasien oder Fragmente.
  • 14:43 - 14:46
    Erst auf den höheren Ebenen
  • 14:46 - 14:48
    kommen die anderen Sinne dazu,
  • 14:48 - 14:50
    und es werden Verbindungen zu Erinnerungen und Emotionen hergestellt.
  • 14:50 - 14:53
    Und beim Charles-Bonnet-Syndrom
  • 14:53 - 14:55
    erreicht man diese höheren Ebenen nicht.
  • 14:55 - 14:58
    Man bleibt auf der Ebenen des inferioren visuellen Cortex,
  • 14:58 - 15:00
    wo es tausende, abertausende,
  • 15:00 - 15:03
    Millionen von Bildern,
  • 15:03 - 15:05
    Phantasien, Fragmenten von Phantasien gibt,
  • 15:05 - 15:07
    alle neuronal codiert
  • 15:07 - 15:11
    in bestimmten Zellen oder kleinen Zellhaufen.
  • 15:11 - 15:14
    Normalerweise sind alle ein Teil des
  • 15:14 - 15:18
    zusammenhängenden Stroms der Wahrnehmung oder Imagination.
  • 15:18 - 15:21
    Und man ist sich ihrer Existenz nicht bewusst.
  • 15:21 - 15:25
    Nur wenn man sehbehindert oder blind ist
  • 15:25 - 15:27
    wird der Prozess unterbrochen.
  • 15:27 - 15:30
    Und statt normaler Wahrnehmung
  • 15:30 - 15:32
    bekommt man eine anarchische,
  • 15:32 - 15:35
    krampfhafte Stimulation oder Entlastung
  • 15:35 - 15:37
    all dieser visuellen Zellen
  • 15:37 - 15:39
    im inferotemporalen Cortex.
  • 15:39 - 15:42
    Also sieht man plötzlich ein Gesicht. Plötzlich sieht man ein Auto.
  • 15:42 - 15:45
    Plötzlich dies, plötzlich jenes.
  • 15:45 - 15:47
    Der Verstand tut sein bestes, das alles
  • 15:47 - 15:50
    zu organisieren und in irgend einen Zusammenhang zu bringen.
  • 15:50 - 15:52
    Aber er hat nicht besonders viel Erfolg.
  • 15:52 - 15:54
    Als das zuerst beschrieben wurde
  • 15:54 - 15:58
    dachte man, dass man es vielleicht wie Träume interpretieren könnte.
  • 15:58 - 16:00
    Aber die Leute sagten,
  • 16:00 - 16:03
    "Ich erkenne die Leute nicht. Ich kann keine Assoziation erstellen."
  • 16:03 - 16:06
    "Kermit bedeutet mir nichts."
  • 16:06 - 16:11
    Es führt zu nichts, wenn man das als Träume betrachtet.
  • 16:11 - 16:16
    Nun, ich habe mehr oder weniger gesagt, was ich sagen wollte.
  • 16:16 - 16:19
    Ich glaube, ich will nur nochmal rekapitulieren
  • 16:19 - 16:21
    und sagen: Das ist etwas sehr häufiges.
  • 16:21 - 16:23
    Denken sie daran, wie viele blinde Menschen es gibt.
  • 16:23 - 16:25
    Es muss hunderttausende blinder Menschen geben,
  • 16:25 - 16:27
    die diese Halluzinationen haben,
  • 16:27 - 16:29
    aber sich nicht trauen, darüber zu sprechen.
  • 16:29 - 16:32
    Diese Sache muss also bekannter gemacht
  • 16:32 - 16:38
    werden, unter Patienten, unter Ärzten, in der Öffentlichkeit.
  • 16:38 - 16:40
    Abschließend denke ich, es ist
  • 16:40 - 16:43
    etwas unendlich interessantes und wertvolles,
  • 16:43 - 16:47
    das uns dabei hilft, zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert.
  • 16:47 - 16:50
    Charles Bonnet hat vor 250 Jahren gesagt –
  • 16:50 - 16:54
    er fragte sich angesichts dieser Halluzinationen,
  • 16:54 - 16:57
    wie, wie er es nannte, das Theater des Geistes
  • 16:57 - 17:00
    durch die Maschinerie des Gehirns erschaffen werden konnte.
  • 17:00 - 17:03
    Jetzt, 250 Jahre später,
  • 17:03 - 17:06
    bekommen wir, glaube ich, einen flüchtigen Eindruck, wie das geht.
  • 17:06 - 17:08
    Vielen herzlichen Dank.
  • 17:08 - 17:11
    (Applaus)
  • 17:11 - 17:14
    Chris Anderson: Das war großartig. Haben Sie vielen Dank.
  • 17:14 - 17:16
    Sie sprechen mit so viel Einblick und Mitgefühl
  • 17:16 - 17:19
    für ihre Patienten von diesen Dingen.
  • 17:19 - 17:24
    Haben Sie die Syndrome, über die sie schreiben auch selbst erlebt?
  • 17:24 - 17:26
    Oliver Sacks: Ich habe befürchtet, dass sie das fragen.
  • 17:26 - 17:27
    (Gelächter)
  • 17:27 - 17:30
    Nun, ja, viele davon.
  • 17:30 - 17:33
    Und ich bin tatsächlich selbst ein bisschen sehbehindert.
  • 17:33 - 17:36
    Ich bin auf einem Auge blind, und das andere ist auch nicht besonders gut.
  • 17:36 - 17:40
    Und ich sehe die geometrischen Halluzinationen.
  • 17:40 - 17:42
    Aber da hört es schon auf.
  • 17:42 - 17:44
    C.A.: Und sie beunruhigen Sie nicht?
  • 17:44 - 17:46
    Weil sie verstehen, wo sie herkommen. Sie machen ihnen keine Sorgen?
  • 17:46 - 17:50
    Naja, sie beunruhigen mich nicht mehr als mein Tinnitus.
  • 17:50 - 17:53
    Den ich ignoriere.
  • 17:53 - 17:55
    Manchmal finde ich sie interessant.
  • 17:55 - 17:58
    Und ich habe viele Bilder davon in meinen Notizbüchern.
  • 17:58 - 18:01
    Ich habe auch schon ein fMRI von mir selbst gemacht,
  • 18:01 - 18:04
    um zu sehen, wie mein visueller Cortex die Kontrolle übernimmt.
  • 18:04 - 18:08
    Und wenn ich all diese Sechsecke
  • 18:08 - 18:10
    und komplexen Formen sehe, die ich auch habe,
  • 18:10 - 18:12
    bei einer Migräne,
  • 18:12 - 18:14
    dann frage ich mich, ob jeder solche Sachen sieht
  • 18:14 - 18:17
    und ob Dinge wie Höhlenmalerei oder ornamentale Kunst
  • 18:17 - 18:20
    vielleicht ein bisschen davon abgeleitet sind.
  • 18:20 - 18:22
    C.A.: Das war ein absolut faszinierender Vortrag.
  • 18:22 - 18:24
    Vielen Dank, dass Sie bei uns waren.
  • 18:24 - 18:26
    O.S.: Danke. Vielen Dank.
  • 18:26 - 18:28
    (Applaus)
Title:
Oliver Sacks: Was Halluzinationen über unsere Psyche enthüllen.
Speaker:
Oliver Sacks
Description:

Der Neurologe und Autor Oliver Sacks macht uns mit dem Charles-Bonnett-Syndrom vertraut, bei dem sehbehinderte Menschen lebhafte Halluzinationen erleben. Er beschreibt die Erfahrungen seiner Patienten in rührender Ausführlichkeit und erläutert uns die biologischen Hintergründe dieses wenig beachteten Phänomens.

more » « less
Video Language:
English
Team:
closed TED
Project:
TEDTalks
Duration:
18:32
Björn Láczay added a translation

German subtitles

Revisions