Oliver Sacks: Was Halluzinationen über unsere Psyche enthüllen.
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0:00 - 0:03Wir sehen mit den Augen.
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0:03 - 0:06Aber ebenso sehen wir mit dem Gehirn.
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0:06 - 0:10Und das Sehen mit dem Gehirn wird oft als Phantasie bezeichnet.
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0:10 - 0:15Und die Landschaften unserer Phantasie sind uns vertraut.
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0:15 - 0:19Wir verbringen unser ganzes Leben mit ihnen.
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0:19 - 0:23Aber es gibt auch Halluzinationen.
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0:23 - 0:26Und Halluzinationen sind völlig anders.
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0:26 - 0:28Sie scheinen nicht unsere eigene Schöpfung zu sein.
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0:28 - 0:30Wir können sie anscheinend nicht kontrollieren.
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0:30 - 0:32Sie scheinen von außen zu kommen,
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0:32 - 0:35und sie imitieren scheinbar die reale Wahrnehmung.
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0:35 - 0:39Ich werde also über Halluzinationen sprechen.
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0:39 - 0:43Und zwar über eine besondere Form von visuellen Halluzinationen,
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0:43 - 0:48die bei meinen Patienten auftritt.
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0:48 - 0:52Vor ein paar Monaten bekam ich einen Anruf
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0:52 - 0:54aus einem Pflegeheim, in dem ich arbeite.
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0:54 - 0:59Sie sagten mir, dass eine der Bewohnerinnen, eine über 90 Jahre alte Dame,
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0:59 - 1:01Dinge sah.
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1:01 - 1:04Und sie haben sich gefragt, ob sie jetzt übergeschnappt ist.
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1:04 - 1:06Oder, weil sie ja eine alte Dame war,
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1:06 - 1:09ob sie einen Schlaganfall oder Alzheimer hatte.
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1:09 - 1:14Also fragten Sie mich, ob ich kommen und einen Blick auf Rosalie,
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1:14 - 1:16die alte Dame, werfen könnte.
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1:16 - 1:18Ich ging also hin.
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1:18 - 1:20Es war sofort klar,
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1:20 - 1:23dass Sie geistig völlig gesund,
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1:23 - 1:26bei klarem Verstand und recht intelligent war.
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1:26 - 1:30Aber sie war ziemlich erschrocken und verwirrt
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1:30 - 1:33weil sie etwas gesehen hatte.
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1:33 - 1:36Und sie sagte mir --
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1:36 - 1:38das hatten die Schwestern nicht erwähnt --
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1:38 - 1:40dass sie blind war,
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1:40 - 1:45völlig blind aufgrund einer Makuladegeneration, seit fünf Jahren.
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1:45 - 1:48Aber jetzt, seit einigen Tagen, hatte sie wieder etwas gesehen.
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1:48 - 1:51Also fragte ich: "Was haben Sie gesehen?"
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1:51 - 1:54Und sie sagte: "Leute in orientalischer Kleidung,
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1:54 - 1:58im Schleier, die Treppen auf und ab gehen.
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1:58 - 2:01Ein Mann dreht sich zu mir um und lächelt.
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2:01 - 2:05Aber er hat auf einer Seite seines Mundes riesige Zähne.
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2:05 - 2:07Und auch Tiere.
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2:07 - 2:10Ich sehe ein weißes Gebäude. Es schneit weichen Schnee.
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2:10 - 2:15Ich sehe dieses Pferd mit Geschirr, das den Schnee wegzieht.
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2:15 - 2:19Und eines Nachts ändern sich die Bilder.
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2:19 - 2:21Ich sehe Katzen und Hunde auf mich zukommen.
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2:21 - 2:24Sie kommen bis zu einer bestimmten Stelle und bleiben dann stehen.
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2:24 - 2:26Dann verändert es sich wieder.
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2:26 - 2:29Ich sehe viele Kinder. Sie gehen Treppen auf und ab.
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2:29 - 2:32Sie sind leuchtend bunt gekleidet, rosa und blau,
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2:32 - 2:35wie im Orient."
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2:35 - 2:38Manchmal, so sagte sie, sind es vor den Leuten
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2:38 - 2:42rosa und blaue Quadrate auf dem Boden, die sie halluziniert,
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2:42 - 2:45und die scheinen zur Decke hinaufzugehen.
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2:45 - 2:49Ich sagte: "Ist das so wie ein Traum?"
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2:49 - 2:52Und sie sagte: "Nein, es ist nicht wie ein Traum. Es ist wie ein Film."
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2:52 - 2:55Sie sagte: "Es ist in Farbe. Es bewegt sich.
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2:55 - 2:59Aber es ist ganz still, wie ein Stummfilm."
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2:59 - 3:01Und sie sagte, dass es ein ziemlich langweiliger Film ist.
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3:01 - 3:04Sie sagte: "Diese ganzen Leute in orientalischer Kleidung,
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3:04 - 3:09die rauf und runter laufen - immer das Gleiche, ziemlich dröge."
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3:09 - 3:11(Gelächter)
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3:11 - 3:13Und sie hatte Sinn für Humor.
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3:13 - 3:15Sie wusste, dass es eine Halluzination war.
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3:15 - 3:17Aber sie hatte Angst. Sie war 95 Jahre alt
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3:17 - 3:20und hatte noch nie zuvor Halluzinationen.
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3:20 - 3:23Sie sagte, dass die Halluzinationen überhaupt nichts
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3:23 - 3:27damit zu tun hatten, was sie dachte, fühlte oder tat.
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3:27 - 3:31Dass sie ganz von selbst zu kommen und zu gehen schienen.
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3:31 - 3:33Sie konnte sie nicht kontrollieren.
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3:33 - 3:35Sie sagte, sie würde keinen
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3:35 - 3:37der Menschen oder Orte
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3:37 - 3:39in den Halluzinationen erkennen.
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3:39 - 3:41Und keiner der Menschen und keins der Tiere,
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3:41 - 3:45naja, sie schienen sie gar nicht zu bemerken.
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3:45 - 3:47Und sie wusste nicht, was los war.
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3:47 - 3:49Sie fragte sich, ob sie verrückt wurde
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3:49 - 3:51oder den Verstand verlor.
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3:51 - 3:53Ich untersuchte sie also eingehend.
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3:53 - 3:55Sie war eine aufgeweckte alte Dame.
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3:55 - 3:59Geistig völlig klar. Sie hatte keine medizinischen Probleme.
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3:59 - 4:03Sie nahm keinerlei Medikamente, die Halluzinationen hervorrufen konnten.
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4:03 - 4:05Aber sie war blind.
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4:05 - 4:07Und dann sagte ich zu ihr:
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4:07 - 4:09"Ich glaube, ich weiß, was sie haben."
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4:09 - 4:13Ich sagte, "Es gibt eine besondere Form visueller Halluzinationen,
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4:13 - 4:17die mit nachlassender Sehfähigkeit oder Blindheit einhergehen."
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4:17 - 4:20"Ursprünglich", sagte ich, "wurden sie
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4:20 - 4:22schon im 18. Jahrhundert von einem Mann
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4:22 - 4:25namens Charles Bonnet beschrieben.
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4:25 - 4:28Und sie haben das Charles-Bonnet-Syndrom.
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4:28 - 4:30Mit Ihrem Gehirn ist alles in Ordnung. Mit Ihrem Verstand ist alles in Ordnung.
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4:30 - 4:33Sie haben das Charles-Bonnet-Syndrom."
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4:33 - 4:36Und sie war sehr erleichtert darüber,
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4:36 - 4:40dass es kein ernstes Problem war,
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4:40 - 4:43und außerdem sehr neugierig.
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4:43 - 4:45Sie fragte: "Wer ist dieser Charles Bonnet?"
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4:45 - 4:48Sie sagte: "Hatte er das selbst auch?"
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4:48 - 4:51Und sie sagte: "Sagen sie allen Schwestern,
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4:51 - 4:54dass ich das Charles-Bonnet-Syndrom habe."
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4:54 - 4:56(Gelächter)
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4:56 - 5:00"Ich bin nicht verrückt. Ich bin nicht verkalkt. Ich habe das Charles-Bonnet-Syndrom.
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5:00 - 5:02Also sagte ich den Schwestern das.
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5:02 - 5:05Nun, für mich ist das eine alltägliche Situation.
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5:05 - 5:07Ich arbeite fast ständig in Altersheimen.
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5:07 - 5:09Ich treffe eine Menge alte Leute,
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5:09 - 5:13die hör- oder sehbehindert sind.
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5:13 - 5:15Etwa zehn Prozent der Hörbehinderten
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5:15 - 5:18haben musikalische Halluzinationen.
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5:18 - 5:21Und etwa zehn Prozent der Sehbehinderten
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5:21 - 5:23haben visuelle Halluzinationen.
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5:23 - 5:25Man muss nicht völlig blind sein,
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5:25 - 5:27nur hinreichend behindert.
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5:27 - 5:31Was die erste Beschreibung im 18. Jahrhundert angeht,
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5:31 - 5:33so hatte Charles Bonnet sie nicht.
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5:33 - 5:36Sein Großvater hatte diese Halluzinationen.
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5:36 - 5:39Sein Großvater war ein Beamter, ein älterer Herr.
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5:39 - 5:42Er war wegen seines grauen Stars operiert worden.
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5:42 - 5:44Er sah ziemlich schlecht.
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5:44 - 5:49Und im Jahre 1759 beschrieb er seinem Enkel
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5:49 - 5:51verschiedene Dinge, die er sah.
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5:51 - 5:53Das Erste, was er sah,
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5:53 - 5:55war ein schwebendes Taschentuch.
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5:55 - 5:57Es war ein großes blaues Taschentuch
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5:57 - 5:59mit vier orangen Kreisen.
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5:59 - 6:02Und er wusste, dass es eine Halluziantion war.
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6:02 - 6:04Taschentücher schweben nicht einfach so herum.
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6:04 - 6:08Und dann sah er ein große, schwebendes Rad.
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6:08 - 6:13Aber manchmal war er nicht sicher, ob er halluzinierte oder nicht.
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6:13 - 6:15Denn die Halluzinationen passten
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6:15 - 6:17zum Kontext dessen, was er sah.
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6:17 - 6:20Einmal zum Beispiel, als seine Enkelinnen ihn besuchten,
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6:20 - 6:25sagte er: "Und wer sind diese gutaussehenden jungen Männer?"
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6:25 - 6:29Und sie sagten: "Ach, Opa, es sind leider keine gutaussehenden jungen Männer da."
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6:29 - 6:33Und da verschwanden die jungen Männer.
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6:33 - 6:36Es ist typisch für diese Halluzinationen
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6:36 - 6:39dass sie schlagartig kommen und gehen können.
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6:39 - 6:41Sie blenden sich nicht langsam ein oder aus.
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6:41 - 6:44Sie kommen ziemlich plötzlich. Und sie verändern sich unvermittelt.
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6:44 - 6:47Charles Lullin, der Großvater,
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6:47 - 6:50sah hunderte verschiedener Gestalten,
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6:50 - 6:52viele verschiedene Landschaften.
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6:52 - 6:56Einmal sah er einen Mann im Bademantel, der eine Pfeife rauchte,
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6:56 - 6:59und erkannte, dass er sich selbst sah.
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6:59 - 7:02Das war die einzige Gestalt, die er erkannte.
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7:02 - 7:06Während er einmal durch die Straßen von Paris ging,
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7:06 - 7:09sah er – das war real – ein Gerüst.
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7:09 - 7:12Aber als er zurück nach Hause kam, sah er ein 15 Zentimeter hohes
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7:12 - 7:16Modell des Gerüsts auf seinem Schreibtisch.
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7:16 - 7:19Diese Wiederholung der Wahrnehmung
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7:19 - 7:21wird manchmal Palinopsie genannt.
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7:21 - 7:26Was bei ihm und bei Rosalie,
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7:26 - 7:28anscheinend passiert –
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7:28 - 7:30und Rosalie fragte: "Was passiert da?" –
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7:30 - 7:33und ich sagte, dass, wenn man die Sehkraft verliert,
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7:33 - 7:36wenn die Sehzentren im Gehirn keine Signale mehr bekommen,
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7:36 - 7:39dass sie hyperaktiv und erregbar werden.
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7:39 - 7:41Und sie fangen an, spontan zu feuern.
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7:41 - 7:44Und man fängt an, Dinge zu sehen.
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7:44 - 7:47Die Dinge, die man sieht, können sogar recht kompliziert sein.
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7:47 - 7:51Bei einer meiner anderen Patienteninnen,
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7:51 - 7:53die, [genau wie Charles Lullin noch] etwas Sehkraft besaß,
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7:53 - 7:57konnten die Visionen beunruhigend sein.
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7:57 - 8:00Einmal sagte sie, sie sähe
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8:00 - 8:03einen Mann in einem gestreiften Hemd in einem Restaurant.
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8:03 - 8:05Und er drehte sich um. Und dann
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8:05 - 8:08teilte er sich in sechs identische Männer in gestreiften Hemden,
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8:08 - 8:11die auf sie zu kamen.
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8:11 - 8:14Und dann vereinigten sich die sechs Männer wieder, wie eine Ziehharmonika.
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8:14 - 8:16Als sie einmal mit dem Auto fuhr,
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8:16 - 8:18das heißt, natürlich fuhr ihr Ehemann,
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8:18 - 8:20teilte sich die Straße in vier Teile.
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8:20 - 8:24Und sie spürte, wie sie gleichzeitig vier Straßen entlangfuhr.
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8:24 - 8:29Sie hatte auch sehr mobile Halluzinationen.
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8:29 - 8:32Viele davon hatten mit Autos zu tun.
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8:32 - 8:34Manchmal sah sie einen jungen Burschen
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8:34 - 8:37auf der Kühlerhaube des Autos sitzen.
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8:37 - 8:39Er war sehr beharrlich und bewegte sich ziemlich geschickt
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8:39 - 8:41wenn das Auto in eine Kurve fuhr.
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8:41 - 8:44Und dann, wenn sie stehen blieben,
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8:44 - 8:47flog der Junge plötzlich senkrecht nach oben, 30 Meter hoch,
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8:47 - 8:50und verschwand.
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8:50 - 8:55Eine andere Patientin von mir hatte Halluzinationen anderer Art.
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8:55 - 8:58Diese Frau hatte keine Probleme mit den Augen,
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8:58 - 9:00sondern mit den Sehzentren ihres Gehirns.
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9:00 - 9:03Ein kleiner Tumor im Okzipitallappen.
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9:03 - 9:08Und das Beste war, dass sie Cartoons sah.
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9:08 - 9:13Diese Cartoons waren durchsichtig
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9:13 - 9:16und nahmen die Hälfte ihres Sichtfeldes ein, wie eine Leinwand.
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9:16 - 9:22Und insbesondere sah sie Cartoons mit Kermit dem Frosch.
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9:22 - 9:23(Gelächter)
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9:23 - 9:26Also, ich schaue kaum Sesamstraße.
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9:26 - 9:29Aber sie sagte immer wieder:
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9:29 - 9:33"Warum Kermit?" Sie sagte: "Kermit der Frosch bedeutet mir nichts.
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9:33 - 9:36Wissen sie, ich habe über freudsche Einflüsse nachgedacht.
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9:36 - 9:38Warum Kermit?
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9:38 - 9:40Kermit der Frosch bedeutet mir gar nichts."
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9:40 - 9:42Die Cartoons störten sie nicht besonders.
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9:42 - 9:46Aber was sie beunruhigte, war, dass sie recht hartnäckige
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9:46 - 9:49Bilder oder Halluzinationen von Gesichtern sah,
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9:49 - 9:52und wie bei Rosalie waren die Gesichter oft entstellt,
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9:52 - 9:56mit riesigen Zähnen oder riesigen Augen.
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9:56 - 9:59Und die machten ihr Angst.
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9:59 - 10:03Also, was ist nun los mit diesen Leuten?
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10:03 - 10:06Als Mediziner habe ich versucht, zu bestimmen, was da passiert,
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10:06 - 10:08und die Leute dadurch zu beruhigen.
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10:08 - 10:12Vor allem wollte ich ihnen klar machen, dass sie nicht verrückt wurden.
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10:12 - 10:15Wie ich schon sagte: Etwa zehn Prozent
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10:15 - 10:18der sehbehinderten Menschen haben diese Halluzinationen.
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10:18 - 10:22Aber höchstens ein Prozent gibt das zu.
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10:22 - 10:25Weil sie Angst haben, dass man sie für verrückt hält oder sowas.
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10:25 - 10:27Und wenn sie mit ihren Ärzten davon sprechen,
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10:27 - 10:30könnten sie falsch diagnostiziert werden.
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10:30 - 10:32Allgemein meint man eben, wenn jemand Dinge
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10:32 - 10:35sieht oder hört, dann wird er verrückt.
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10:35 - 10:38Aber psychotische Halluzinationen sind ganz anders.
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10:38 - 10:41Psychotische Halluzinationen, ob sie nun visuell sind oder auditiv,
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10:41 - 10:43sprechen dich an. Sie klagen dich an.
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10:43 - 10:45Sie verführen dich. Sie demütigen dich.
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10:45 - 10:48Sie verspotten dich.
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10:48 - 10:50Man interagiert mit ihnen.
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10:50 - 10:53Diese Eigenschaften eines Dialogs
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10:53 - 10:56gibt es bei diesen Charles-Bonnet-Halluzinationen nicht.
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10:56 - 11:00Es ist ein Film. Man sieht einen Film, der nichts mit einem selbst zu tun hat.
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11:00 - 11:03Jedenfalls empfinden die Leute das so.
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11:03 - 11:07Es gibt auch eine seltene Sache namens Temporallappenepilepsie.
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11:07 - 11:10Und manchmal, wenn man das hat,
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11:10 - 11:12dann fühlt man sich an einen Ort in
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11:12 - 11:15der Vergangenheit zurückversetzt.
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11:15 - 11:17Man steht an einer bestimmten Straßenkreuzung.
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11:17 - 11:19Man riecht Röstkastanien.
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11:19 - 11:22Man hört den Verkehrslärm. Alle Sinne sind beteiligt.
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11:22 - 11:24Und man wartet auf seine Freundin.
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11:24 - 11:28Und es ist dieser Dienstagabend im Jahr 1982.
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11:28 - 11:30Und die Temporallappenhalluzinationen
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11:30 - 11:32sind immer multisensorische Halluzinationen,
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11:32 - 11:35voller Gefühl, voller Vertrautheit,
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11:35 - 11:37in Raum und Zeit genau bestimmt,
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11:37 - 11:39schlüssig, dramatisch.
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11:39 - 11:42Bei Charles Bonnet ist das ganz anders.
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11:42 - 11:46Bei den Charles-Bonnet-Halluzinationen
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11:46 - 11:48gibt es verschiedene Ebenen,
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11:48 - 11:50von den geometrischen Halluzinationen,
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11:50 - 11:53den rosa und blauen Quadraten, die die Frau sah,
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11:53 - 11:57bis hin zu ziemlich komplexen Halluzinationen
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11:57 - 12:00mit Personen und insbesondere Gesichtern.
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12:00 - 12:03Gesichter, und manchmal entstellte Gesichter,
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12:03 - 12:06sind das, was in diesen Halluzinationen
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12:06 - 12:08am häufigsten auftritt.
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12:08 - 12:11Und mit die zweithäufigsten sind Cartoons.
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12:11 - 12:14Also, was passiert da?
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12:14 - 12:16Faszinierenderweise ist es seit einigen Jahren
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12:16 - 12:20möglich, Gehirnfunktionen bildlich darzustellen,
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12:20 - 12:24und man kann das fMRI-Verfahren bei halluzinierenden Menschen anwenden.
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12:24 - 12:28Und so findet man heraus, dass verschiedene Teile
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12:28 - 12:31des Sehzentrums aktiviert werden
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12:31 - 12:33während sie halluzinieren.
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12:33 - 12:36Wenn die Leute diese einfachen geometrische Halluzinationen haben,
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12:36 - 12:40ist die primäre visuelle Rinde aktiv.
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12:40 - 12:43Das ist der Teil des Gehirns, der Kanten und Muster wahrnimmt.
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12:43 - 12:47In der primären visuellen Rinde entstehen noch keine Bilder.
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12:47 - 12:50Wenn Bilder entstehen,
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12:50 - 12:52ist ein höherer Bereich des visuellen Cortex
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12:52 - 12:54im Temporallappen beteiligt.
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12:54 - 12:59Ein spezieller Bereich des Temporallappens wird
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12:59 - 13:01als Gyrus fusiformis bezeichnet.
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13:01 - 13:05Und man weiß, dass Menschen, deren Gyrus fusiformis beschädigt ist,
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13:05 - 13:09manchmal die Fähigkeit verlieren, Gesichter zu erkennen.
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13:09 - 13:13Aber wenn es abnorme Aktivität im Gyrus fusiformis gibt,
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13:13 - 13:15dann kann man Gesichter halluzinieren.
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13:15 - 13:18Und genau das stellt man bei manchen dieser Menschen fest.
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13:18 - 13:22Es gibt einen Bereich im anterioren Teil dieses Gyrus,
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13:22 - 13:27in dem Zähne und Augen repräsentiert werden.
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13:27 - 13:30Und dieser Teil des Gyrus ist aktiv,
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13:30 - 13:34wenn die Leute die entstellten Halluzinationen haben.
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13:34 - 13:36Es gibt einen weiteren Bereich des Gehirns,
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13:36 - 13:38der dann besonders aktiv ist,
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13:38 - 13:40wenn man Cartoons sieht.
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13:40 - 13:43Er ist aktiv, wenn man Cartoons erkennt,
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13:43 - 13:47wenn man Cartoons zeichnet und wenn man sie halluziniert.
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13:47 - 13:50Das ist ziemlich interessant, dass das eine spezielle Gehirnfunktion ist.
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13:50 - 13:53Es gibt andere Gehirnbereiche, die besonders
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13:53 - 13:55an der Erkennung und Halluzination
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13:55 - 13:58von Gebäuden und Landschaften beteiligt sind.
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13:58 - 14:01Ungefähr 1970 hat man herausgefunden, dass nicht nur bestimmte Gehirnbereiche,
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14:01 - 14:03sondern bestimmte Zellen [beteiligt sind].
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14:03 - 14:08"Gesichtsneuronen" wurden um 1970 entdeckt.
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14:08 - 14:10Und heute wissen wir, dass es hunderte anderer
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14:10 - 14:12Arten von Zellen gibt,
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14:12 - 14:14die sehr sehr spezifische Aufgaben haben können.
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14:14 - 14:16Man kann also nicht nur
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14:16 - 14:18"Autoneuronen" haben,
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14:18 - 14:21man hat vielleicht "Aston-Martin-Neuronen"
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14:21 - 14:23(Gelächter)
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14:23 - 14:25Ich habe heute früh einen Aston Martin gesehen.
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14:25 - 14:27Ich musste ihn unterbringen.
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14:27 - 14:30Und jetzt ist er irgendwo da drin.
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14:30 - 14:33(Gelächter)
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14:33 - 14:37Also, auf dieser Ebene, im sogenannten inferotemporalen Kortex,
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14:37 - 14:40gibt es nur visuelle Bilder
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14:40 - 14:43oder Phantasien oder Fragmente.
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14:43 - 14:46Erst auf den höheren Ebenen
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14:46 - 14:48kommen die anderen Sinne dazu,
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14:48 - 14:50und es werden Verbindungen zu Erinnerungen und Emotionen hergestellt.
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14:50 - 14:53Und beim Charles-Bonnet-Syndrom
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14:53 - 14:55erreicht man diese höheren Ebenen nicht.
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14:55 - 14:58Man bleibt auf der Ebenen des inferioren visuellen Cortex,
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14:58 - 15:00wo es tausende, abertausende,
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15:00 - 15:03Millionen von Bildern,
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15:03 - 15:05Phantasien, Fragmenten von Phantasien gibt,
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15:05 - 15:07alle neuronal codiert
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15:07 - 15:11in bestimmten Zellen oder kleinen Zellhaufen.
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15:11 - 15:14Normalerweise sind alle ein Teil des
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15:14 - 15:18zusammenhängenden Stroms der Wahrnehmung oder Imagination.
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15:18 - 15:21Und man ist sich ihrer Existenz nicht bewusst.
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15:21 - 15:25Nur wenn man sehbehindert oder blind ist
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15:25 - 15:27wird der Prozess unterbrochen.
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15:27 - 15:30Und statt normaler Wahrnehmung
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15:30 - 15:32bekommt man eine anarchische,
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15:32 - 15:35krampfhafte Stimulation oder Entlastung
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15:35 - 15:37all dieser visuellen Zellen
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15:37 - 15:39im inferotemporalen Cortex.
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15:39 - 15:42Also sieht man plötzlich ein Gesicht. Plötzlich sieht man ein Auto.
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15:42 - 15:45Plötzlich dies, plötzlich jenes.
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15:45 - 15:47Der Verstand tut sein bestes, das alles
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15:47 - 15:50zu organisieren und in irgend einen Zusammenhang zu bringen.
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15:50 - 15:52Aber er hat nicht besonders viel Erfolg.
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15:52 - 15:54Als das zuerst beschrieben wurde
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15:54 - 15:58dachte man, dass man es vielleicht wie Träume interpretieren könnte.
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15:58 - 16:00Aber die Leute sagten,
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16:00 - 16:03"Ich erkenne die Leute nicht. Ich kann keine Assoziation erstellen."
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16:03 - 16:06"Kermit bedeutet mir nichts."
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16:06 - 16:11Es führt zu nichts, wenn man das als Träume betrachtet.
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16:11 - 16:16Nun, ich habe mehr oder weniger gesagt, was ich sagen wollte.
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16:16 - 16:19Ich glaube, ich will nur nochmal rekapitulieren
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16:19 - 16:21und sagen: Das ist etwas sehr häufiges.
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16:21 - 16:23Denken sie daran, wie viele blinde Menschen es gibt.
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16:23 - 16:25Es muss hunderttausende blinder Menschen geben,
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16:25 - 16:27die diese Halluzinationen haben,
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16:27 - 16:29aber sich nicht trauen, darüber zu sprechen.
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16:29 - 16:32Diese Sache muss also bekannter gemacht
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16:32 - 16:38werden, unter Patienten, unter Ärzten, in der Öffentlichkeit.
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16:38 - 16:40Abschließend denke ich, es ist
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16:40 - 16:43etwas unendlich interessantes und wertvolles,
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16:43 - 16:47das uns dabei hilft, zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert.
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16:47 - 16:50Charles Bonnet hat vor 250 Jahren gesagt –
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16:50 - 16:54er fragte sich angesichts dieser Halluzinationen,
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16:54 - 16:57wie, wie er es nannte, das Theater des Geistes
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16:57 - 17:00durch die Maschinerie des Gehirns erschaffen werden konnte.
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17:00 - 17:03Jetzt, 250 Jahre später,
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17:03 - 17:06bekommen wir, glaube ich, einen flüchtigen Eindruck, wie das geht.
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17:06 - 17:08Vielen herzlichen Dank.
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17:08 - 17:11(Applaus)
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17:11 - 17:14Chris Anderson: Das war großartig. Haben Sie vielen Dank.
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17:14 - 17:16Sie sprechen mit so viel Einblick und Mitgefühl
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17:16 - 17:19für ihre Patienten von diesen Dingen.
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17:19 - 17:24Haben Sie die Syndrome, über die sie schreiben auch selbst erlebt?
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17:24 - 17:26Oliver Sacks: Ich habe befürchtet, dass sie das fragen.
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17:26 - 17:27(Gelächter)
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17:27 - 17:30Nun, ja, viele davon.
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17:30 - 17:33Und ich bin tatsächlich selbst ein bisschen sehbehindert.
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17:33 - 17:36Ich bin auf einem Auge blind, und das andere ist auch nicht besonders gut.
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17:36 - 17:40Und ich sehe die geometrischen Halluzinationen.
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17:40 - 17:42Aber da hört es schon auf.
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17:42 - 17:44C.A.: Und sie beunruhigen Sie nicht?
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17:44 - 17:46Weil sie verstehen, wo sie herkommen. Sie machen ihnen keine Sorgen?
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17:46 - 17:50Naja, sie beunruhigen mich nicht mehr als mein Tinnitus.
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17:50 - 17:53Den ich ignoriere.
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17:53 - 17:55Manchmal finde ich sie interessant.
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17:55 - 17:58Und ich habe viele Bilder davon in meinen Notizbüchern.
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17:58 - 18:01Ich habe auch schon ein fMRI von mir selbst gemacht,
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18:01 - 18:04um zu sehen, wie mein visueller Cortex die Kontrolle übernimmt.
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18:04 - 18:08Und wenn ich all diese Sechsecke
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18:08 - 18:10und komplexen Formen sehe, die ich auch habe,
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18:10 - 18:12bei einer Migräne,
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18:12 - 18:14dann frage ich mich, ob jeder solche Sachen sieht
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18:14 - 18:17und ob Dinge wie Höhlenmalerei oder ornamentale Kunst
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18:17 - 18:20vielleicht ein bisschen davon abgeleitet sind.
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18:20 - 18:22C.A.: Das war ein absolut faszinierender Vortrag.
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18:22 - 18:24Vielen Dank, dass Sie bei uns waren.
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18:24 - 18:26O.S.: Danke. Vielen Dank.
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18:26 - 18:28(Applaus)
- Title:
- Oliver Sacks: Was Halluzinationen über unsere Psyche enthüllen.
- Speaker:
- Oliver Sacks
- Description:
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Der Neurologe und Autor Oliver Sacks macht uns mit dem Charles-Bonnett-Syndrom vertraut, bei dem sehbehinderte Menschen lebhafte Halluzinationen erleben. Er beschreibt die Erfahrungen seiner Patienten in rührender Ausführlichkeit und erläutert uns die biologischen Hintergründe dieses wenig beachteten Phänomens.
- Video Language:
- English
- Team:
closed TED
- Project:
- TEDTalks
- Duration:
- 18:32