Das schreckliche Nachbeben einer Begegnung mit dem Tod
-
0:01 - 0:05Es war der 8. April 2003,
-
0:06 - 0:10und ich war in Bagdad,
um über den Irakkrieg zu berichten. -
0:10 - 0:16Es war der Moment, als die Amerikaner
mit ihren Panzern in Bagdad einfuhren. -
0:16 - 0:22Wir waren ein paar Journalisten
im Palestine Hotel, -
0:22 - 0:27und -- Willkür des Kriegs --
nun kam er auf uns zu, -
0:27 - 0:29unter uns, vor unseren Fenstern.
-
0:30 - 0:34Bagdad war voll von
schwarzem Rauch, von Öl; -
0:34 - 0:38es stank, man konnte nichts sehen,
aber man sah doch das, was vor sich ging. -
0:38 - 0:40Und ich sollte natürlich
einen Artikel schreiben, -
0:40 - 0:44so wie immer -- gleich
am Tag des Geschehens. -
0:44 - 0:47Ich war in meinem Zimmer
im 16. Stock einerseits am Schreiben, -
0:47 - 0:50aber ging doch ab und zu ans Fenster,
-
0:50 - 0:52um zu sehen, was da passierte.
-
0:53 - 0:56Und dann irgendwann
gab es einen gewaltigen Schlag. -
0:56 - 0:59Seit drei Wochen hatte es
keine Bombardierungen durch Raketen -
0:59 - 1:01und 500-Kilo-Bomben mehr gegeben,
-
1:01 - 1:07doch hier, diesen Einschlag,
den konnte ich in meinem Körper spüren. -
1:07 - 1:11Demnach war mir klar, dass es
sehr, sehr nah passiert sein musste. -
1:11 - 1:14Ich ging also runter, um nachzusehen,
was geschehen war, -
1:14 - 1:19runter in den 15. Stock,
-
1:19 - 1:22und ich sah schreiende Menschen
in den Gängen, Journalisten. -
1:22 - 1:24Ich ging in ein Zimmer
-
1:24 - 1:29und mir wurde klar, dass dieses Zimmer
von einem Projektil getroffen wurde. -
1:29 - 1:32Dort gab es auch einen Verwundeten.
-
1:33 - 1:35Gleich neben dem Fenster, da war ein Mann,
-
1:35 - 1:39ein Kameramann namens Taras Protsuyk,
-
1:40 - 1:42hier lag er, auf dem Bauch.
-
1:46 - 1:50Ich habe mal im Krankenhaus gearbeitet
und wollte erste Hilfe leisten. -
1:50 - 1:54Aber als ich ihn herum drehte,
-
1:56 - 2:02war er vom Brust- bis zum Schambein offen,
ich sah jedoch überhaupt nichts. -
2:02 - 2:09Ich sah nur einen weißen Fleck,
schimmernd, strahlend, der mich blendete, -
2:09 - 2:11und ich verstand nicht.
-
2:11 - 2:15Dann verschwand der Fleck
und ich sah die schwere Verletzung. -
2:15 - 2:18Mit ein paar Freunden
legte ich ihn in ein Tuch. -
2:18 - 2:22Wir trugen ihn in einen Aufzug,
der in jedem der 15 Stockwerke hielt, -
2:22 - 2:25legten ihn in ein Auto,
das ihn ins Krankenhaus brachte. -
2:25 - 2:29Er starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus,
und der spanische Kameramann, José Couso, -
2:29 - 2:32der selbst im 14. Stock war
und ebenfalls getroffen wurde -
2:32 - 2:35-- das Geschoss traf nämlich genau
zwischen die beiden Stockwerke -- -
2:35 - 2:37verstarb auf dem Operationstisch.
-
2:37 - 2:38Als ich zurückging,
-
2:38 - 2:42nachdem das Auto abgefahren war,
hatte ich einen Artikel zu schreiben, -
2:42 - 2:45den ich schreiben musste.
-
2:45 - 2:48Und so bin ich die Sache angegangen ...
-
2:48 - 2:52Ich ging zurück durch die Hotelhalle,
die Arme voller Blut, -
2:52 - 2:55und da traf ich auf einen
irakischen Handlanger, der mich anhielt, -
2:55 - 2:59um die zehn Tage Steuern einzufordern,
die ich ihm noch schuldete. -
2:59 - 3:02Ich habe ihn zum Teufel gejagt
und mir gesagt: -
3:02 - 3:06"Das musst du jetzt unbedingt
ausblenden! Blende das aus! -
3:07 - 3:09Wenn du schreiben willst,
musst du das ausblenden." -
3:09 - 3:12Das habe ich auch gemacht, ich ging
nach oben und schrieb meinen Artikel, -
3:12 - 3:14den ich dann auch abgeschickt habe.
-
3:15 - 3:16Danach aber,
-
3:16 - 3:20nach dieser Affekthandlung, hat der Fakt,
einige Kollegen verloren zu haben, -
3:20 - 3:22mich auf eine bestimmte Weise
aus der Bahn geworfen: -
3:22 - 3:26Ich sah wieder diesen Fleck,
strahlend, schimmernd, -
3:29 - 3:31und ich verstand nicht,
was er zu bedeuten hatte. -
3:31 - 3:34Und so ging der Krieg zu Ende ...
-
3:36 - 3:39Später sagte ich mir dann,
dass das nicht sein kann. -
3:39 - 3:42Ich kann nicht nicht wissen,
was da passiert ist. -
3:42 - 3:44Denn das war nicht das erste Mal;
-
3:44 - 3:46hier geht es auch nicht bloß um mich.
-
3:46 - 3:49Ich hatte bei anderen auch
derartige Dinge wahrgenommen, -
3:49 - 3:53in 20 oder 35 Jahren
der Berichterstattung. -
3:53 - 3:57Ich habe auch andere Dinge gesehen,
die mir nahe gingen. -
3:57 - 4:00Zum Beispiel im Libanon,
da kannte ich einen Mann, -
4:00 - 4:02einen Veteran, 25 Jahre alt,
5 Jahre im Krieg, -
4:02 - 4:04weil er Veteran war,
folgten wir ihm überall hin! -
4:04 - 4:08Er war jemand, der sich nachts
mit absoluter Sicherheit bewegte -- -
4:08 - 4:10ein großer, wahrer Soldat!
-
4:10 - 4:12Daher folgten wir ihm,
-
4:12 - 4:14denn wir wussten,
dass wir mit ihm sicher waren. -
4:14 - 4:18Eines Tages wurde mir gesagt,
und ich habe das geprüft, -
4:18 - 4:20dass er gerade in der Kaserne
Karten spielte, -
4:20 - 4:26als jemand hinein kam, gleich nebenan,
und seine Waffe abfeuerte. -
4:26 - 4:31Der Schuss ging ins Leere,
aber allein dieser einfache Knall -
4:31 - 4:35hat ihn unter den Tisch kriechen lassen
wie ein kleines Kind! -
4:35 - 4:37Er zitterte, er geriet in Panik!
-
4:37 - 4:41Seither kam er nie mehr wieder
auf die Beine, um zu kämpfen. -
4:41 - 4:42Als ich ihn wieder traf,
-
4:42 - 4:45hatte er auch seinen Job als Croupier
im Casino Beirut gekündigt, -
4:45 - 4:47weil er nicht mehr schlief.
-
4:47 - 4:50Dabei war das eine Arbeit,
die der Situation angepasst war. -
4:50 - 4:55Ich begann mich also zu fragen,
was das für eine Sache ist, -
4:55 - 5:01die einen ohne sichtbare
Verletzungen töten kann? -
5:01 - 5:03Was geht da vor sich?
-
5:04 - 5:06Was ist das für eine unbekannte Sache?
-
5:06 - 5:11Und es trat zu häufig auf,
als dass es hätte Zufall sein können. -
5:11 - 5:14Ich begann daher, Nachforschungen
anzustellen, das konnte ich schließlich. -
5:14 - 5:17Ich machte mich an die Arbeit,
-
5:17 - 5:25und konsultierte Bücher, Psychiater,
Museen, Bibliotheken usw. -
5:26 - 5:30Schließlich entdeckte ich, dass es
Menschen gab, die Bescheid wussten. -
5:31 - 5:34Oft waren das militärische Psychiater.
-
5:34 - 5:38Und wir standen etwas gegenüber,
das man Trauma nennt, -
5:38 - 5:42-- im Englischen nennt man es PTSD,
"Posttraumatische Belastungsstörung" -- -
5:42 - 5:48das war etwas, das es in der Tat gibt,
-
5:48 - 5:51worüber nur niemand jemals spricht.
-
5:52 - 5:55Und was genau ist dieses Trauma?
-
5:55 - 5:59Es ist eine Begegnung mit dem Tod.
-
5:59 - 6:03Ich weiß nicht, ob Sie bereits dem Tod
ins Gesicht gesehen haben, keine Leichen; -
6:03 - 6:07ich meine nicht den toten Körper des
Großvaters auf dem Krankenbett. Nein! -
6:07 - 6:12Auch nicht eine Person,
die auf der Straße überfahren wurde. -
6:12 - 6:17Ich spreche hier von der Begegnung
mit dem Nichts des Todes. -
6:18 - 6:24Wir haben eigentlich nicht
das Recht, es zu sehen. -
6:24 - 6:29Die alten Griechen sagten: "Der Sonne und
dem Tod kann man nicht ins Auge sehen." -
6:29 - 6:34Der Mensch hat nicht das Recht,
dem Nichts des Todes ins Auge zu sehen. -
6:34 - 6:41Und wenn das passiert, kann es
für einige Zeit unsichtbar bleiben, -
6:41 - 6:44für Tage, Wochen, Monate,
manchmal auch für Jahre. -
6:44 - 6:50Und dann bricht es plötzlich hervor,
denn es ist eine Sache, -
6:50 - 6:54die tief im Gehirn steckt,
eine Art Fenster -
6:54 - 6:59zwischen einem Bild und dem Gehirn,
das sich im Gehirn eingenistet hat, -
6:59 - 7:04das dort verblieben ist und den gesamten
Platz in unserem Gehirn einnehmen wird. -
7:05 - 7:08Da sind dann die Leute, Männer und Frauen,
-
7:09 - 7:11die plötzlich nicht mehr schlafen
-
7:12 - 7:15und entsetzliche Anfälle
von Angst und Panik erleben! -
7:15 - 7:17Richtige Panikattacken!
Keine kurzen Schreckmomente. -
7:17 - 7:21Menschen, die auf einmal nicht mehr
schlafen wollen, da sie im Schlaf -
7:21 - 7:24jede einzelne Nacht
denselben Albtraum haben, -
7:24 - 7:26jede Nacht dasselbe Bild.
-
7:26 - 7:27Welches Bild?
-
7:27 - 7:31Dieses Bild ist z. B. ein Kombattant,
der in ein Gebäude vordringt -
7:31 - 7:34und dort einem anderen Kombattanten
begegnet, der auf ihn zielt. -
7:34 - 7:37Er sieht den Gewehrlauf,
blickt direkt in die Öffnung, -
7:37 - 7:40und diese wird auf einmal
riesengroß, verformt sich, -
7:40 - 7:44wird plötzlich zu Watte
und verschluckt alles. -
7:46 - 7:51Danach sagt er: "Ich habe den Tod gesehen,
ich habe mich tot gesehen, ich bin tot." -
7:51 - 7:55Und von diesem Moment an
weiß er, dass er tot ist. -
7:55 - 8:00Das ist keine bloße Empfindung;
er ist davon überzeugt, tot zu sein. -
8:00 - 8:03Und dieser Gewehrlauf, einer von vielen,
dass der andere nicht schießt, -
8:03 - 8:07unwichtig, denn in diesem
einen Moment ist er tot. -
8:07 - 8:09Das kann auch der Geruch
von Massengräbern sein. -
8:09 - 8:11Davon habe ich viele in Ruanda gesehen.
-
8:11 - 8:15Das kann die Stimme eines Freundes sein,
den man rufen hört, -
8:15 - 8:19der gerade umgebracht wird
und dem man nicht helfen kann. -
8:19 - 8:20Man hört diese Stimme.
-
8:20 - 8:23Jede Nacht, über Wochen und Monate,
-
8:23 - 8:26wacht dieser Mann dann davon auf --
-
8:26 - 8:29voller Angst und Schrecken,
panisch, wie ein Kind. -
8:29 - 8:34Ich habe einige Männer weinen
sehen, wie kleine Kinder, -
8:34 - 8:38wegen der wiederholten Konfrontation
mit demselben Bild. -
8:38 - 8:41Im Gehirn dieses Menschen aber
wird dieses Bild des Grauens, -
8:43 - 8:45das Nichts des Todes,
-
8:45 - 8:47welches man als Analogon bezeichnet,
-
8:47 - 8:48d. h. ein Bild, das etwas versteckt,
-
8:48 - 8:49wird alles bestimmen.
-
8:49 - 8:52Er kann überhaupt nichts
mehr tun. Rein gar nichts. -
8:52 - 8:54Er kann nicht mehr arbeiten,
er kann nicht mehr lieben. -
8:54 - 8:59Er kommt heim, erkennt niemanden mehr.
Er erkennt sich selbst nicht mehr. -
9:00 - 9:05Er versteckt sich, bleibt zu Hause,
zieht sich komplett zurück! -
9:05 - 9:08Ich kenne welche, die draußen kleine
Dosen mit Kleingeld platziert haben, -
9:08 - 9:11für den Fall, dass jemand vorbeikommt.
-
9:11 - 9:13Und plötzlich möchte er sterben,
er möchte töten, -
9:13 - 9:16er möchte sich verstecken,
er möchte flüchten, -
9:16 - 9:18er möchte geliebt werden,
er hasst aber die Menschen, -
9:18 - 9:24und irgendetwas ergreift von ihm Besitz,
von morgens bis abends, -
9:24 - 9:29und er leidet außerordentlich.
-
9:29 - 9:31Und die anderen verstehen ihn nicht!
-
9:31 - 9:33Die anderen sagen:
"Aber du hast doch nichts! -
9:33 - 9:37Dir geht's gut, hast keine Verletzungen,
kamst unversehrt aus dem Krieg zurück." -
9:37 - 9:41Diese Personen erleiden das Martyrium
still und manche begehen gar Selbstmord: -
9:41 - 9:45durch Selbstmord synchronisiert man ja
lediglich Wirklichkeit mit Empfinden, -
9:45 - 9:47weil ich ja ohnehin schon tot bin.
-
9:47 - 9:49Bringe ich mich um, passt das.
Und der Schmerz hört auf. -
9:49 - 9:50Manche bringen sich um,
-
9:50 - 9:52andere enden unter der Brücke,
-
9:52 - 9:53fangen an zu trinken...
-
9:53 - 9:57Wir alle haben diese Geschichte im Kopf,
von diesem Großvater, diesem Onkel -
9:57 - 9:59oder diesem Nachbarn, der trank,
der nicht mehr sprach, -
9:59 - 10:01der stets mürrisch war,
der seine Frau schlug -
10:01 - 10:05und der sein Ende im Suff
oder im Tod gefunden hat. -
10:05 - 10:09Und sie sprechen nicht darüber, wieso?
Man spricht nicht darüber, warum? -
10:09 - 10:10Weil es tabu ist!
-
10:10 - 10:13Es ist nicht so, als hätte
der Mensch nicht die Worte, -
10:13 - 10:16um vom Nichts des Todes zu sprechen.
-
10:16 - 10:18Die anderen aber können es
nicht nachvollziehen! -
10:18 - 10:20Zurück von der Arbeit
hieß es anfangs noch: -
10:20 - 10:22"Ah, da kommt der Reporter!"
-
10:22 - 10:23Beim Abendessen mit weißem Tischtuch,
-
10:23 - 10:25Kerzen und Gästen.
-
10:25 - 10:27"Los, berichte!" Ich begann zu erzählen.
-
10:27 - 10:30Nach 20 Minuten sahen mich alle schief an,
-
10:30 - 10:32die Dame des Hauses hatte
die Nase im Aschenbecher, -
10:32 - 10:34kurzum, die Leute waren entsetzt
-
10:34 - 10:37und mir wurde klar, dass ich
den kompletten Abend ruiniert hatte. -
10:37 - 10:41Deswegen erzähle ich heute nichts mehr,
die Leute wollen das nicht hören -
10:41 - 10:42und sagen: "Hör bloß auf!"
-
10:42 - 10:45Sind das nur Einzelfälle? Nein.
Das tritt sehr häufig auf! -
10:45 - 10:50Ein Drittel der Soldaten im Irak starb --
ähm, "starb'" verzeihen Sie den Fehler. -
10:50 - 10:55Ein Drittel der irakischen Soldaten,
Amerikaner im Irak, leidet an PTSD. -
10:55 - 10:591939 gab es in britischen Psychiatrien
-
10:59 - 11:05noch 200 000 Soldaten
aus dem Ersten Weltkrieg. -
11:05 - 11:09In Vietnam hat es 54 000 tote
Amerikaner gegeben. -
11:09 - 11:141987 hat die amerikanische Regierung
102 000 -- zwei mal so viel -- -
11:14 - 11:17102 000 von Veteranen begangene
Suizide verzeichnet -- -
11:17 - 11:19doppelt so viele Gefallene
wie in Vietnam selbst. -
11:19 - 11:22Sie sehen, das ist eine Sache,
die alle Bereiche abdeckt! -
11:22 - 11:25Nicht bloß die heutigen Kriege,
die vergangenen Kriege -- -
11:25 - 11:28man findet sie in alten Aufzeichnungen,
in unterschiedlichster Form! -
11:28 - 11:33Warum spricht man nicht darüber?
Warum hat man nicht darüber gesprochen? -
11:33 - 11:35Denn das Problem ist doch,
-
11:35 - 11:40dass wenn dieser Mann
nicht spricht, er zugrunde geht. -
11:40 - 11:45Der einzige Weg der Behandlung,
-
11:45 - 11:48denn die gute Nachricht bei der Sache ist,
dass es einen Ausweg gibt: -
11:49 - 11:52"Der Schrei" von Munch, Goya etc. --
ja, es gibt Besserung! -
11:52 - 11:57Die einzige Möglichkeit,
dieses Trauma zu verarbeiten, -
11:57 - 12:02-- diese Begegnung mit dem Tod, die Sie
kalt erwischt, Sie lähmt, Sie tötet -- -
12:02 - 12:06ist es zu schaffen,
darüber zu sprechen. -
12:06 - 12:08Es heißt schließlich:
-
12:08 - 12:12"Uns Menschen hält nur
die Sprache zusammen." -
12:12 - 12:14Wenn es keine Sprache mehr gibt,
sind wir nichts mehr. -
12:14 - 12:17Nur deswegen sind wir überhaupt Menschen.
-
12:17 - 12:19Und angesichts dieses Schreckensbildes,
-
12:19 - 12:21das nicht durch Worte beschrieben ist,
-
12:21 - 12:25denn es ist allein ein Bild
dieses Nichts, das uns quält. -
12:25 - 12:27Es in menschliche Worte zu fassen,
-
12:27 - 12:30ist die einzige Möglichkeit,
damit zurechtzukommen. -
12:30 - 12:34Denn diese Leute fühlen sich nicht mehr
menschlich: Man will sie nicht mehr sehen -
12:34 - 12:36und sie selbst wollen
niemanden mehr sehen. -
12:36 - 12:38Sie fühlen sich schmutzig, übel, beschämt.
-
12:38 - 12:40Einer sagte mal: "Wissen Sie, Doktor,
-
12:40 - 12:42ich fahre nicht mehr mit der Metro,
-
12:42 - 12:44weil ich Angst habe,
dass die Leute all das Grauen -
12:44 - 12:45in meinen Augen sehen."
-
12:45 - 12:46Ein anderer sagte --
-
12:46 - 12:50er hatte eine schlimme Hautkrankheit,
verbrachte 6 Monate in der Dermatologie -- -
12:50 - 12:52er ging von einer Behandlung
zur nächsten, bis er sagte, -
12:52 - 12:54er möchte zum Psychiater
überwiesen werden. -
12:54 - 12:57In der zweiten Sitzung
sagte er zum Psychiater -
12:57 - 12:59(er hatte von Kopf bis Fuß
diese schlimme Hautkrankheit) -
12:59 - 13:02der Arzt fragte: "Aber wieso sind Sie
in diesem Zustand?" -
13:02 - 13:06Und der Mann antwortete: "Weil ich tot bin
natürlich, deswegen zersetze ich mich." -
13:06 - 13:10Sie sehen also, dass das eine Sache ist,
die bis ins Tiefste des Menschen reicht. -
13:10 - 13:16Um zu heilen, muss man darüber sprechen,
das Grauen in Worte fassen, -
13:16 - 13:20Worte von Menschlichkeit; versuchen,
zu bezwingen, erneut darüber zu sprechen. -
13:20 - 13:25Man muss dem Tod ins Gesicht schauen.
-
13:25 - 13:30Und wenn einem das gelingt,
wenn man über diese Dinge spricht, -
13:30 - 13:34in diesem Moment, Stück für Stück,
durch diese Arbeit mit Worten, -
13:34 - 13:37schafft man es auch, seinen Teil
an Menschlichkeit wiederzuerlangen. -
13:37 - 13:41Und das ist wichtig!
Das Schweigen tötet uns! -
13:41 - 13:45Was heißt das genau?
Das heißt, dass nachdem ... -
13:45 - 13:46ah, offensichtlich haben wir
-
13:46 - 13:49unsere unhaltbare Leichtigkeit
des Seins verloren. -
13:49 - 13:52Wir haben unser Gefühl von Ewigkeit
verloren, das uns hier sein lässt. -
13:52 - 13:55Wenn Sie hier sind, nützt Ihnen
das Gefühl, ewig zu sein. -
13:55 - 13:56Doch Sie sind es nicht!
-
13:56 - 13:59Aber andernfalls würden Sie sagen:
"Was soll das Ganze?" -
13:59 - 14:02Diese Menschen haben dieses
Gefühl von Ewigkeit verloren. -
14:02 - 14:06Sie haben ihre Leichtigkeit verloren. Aber
sie haben etwas anderes wiedergefunden! -
14:06 - 14:08Das heißt, schafft man es,
dem Tod ins Gesicht zu blicken -
14:09 - 14:14und diesem zu trotzen, anstatt
zu schweigen und sich zu verstecken ... -
14:15 - 14:18da sind diese Männer und Frauen,
die ich kenne -- Michaël aus Ruanda, -
14:18 - 14:24Carole aus dem Irak, Philippe aus dem
Kongo, all diese Menschen, die ich kannte, -
14:24 - 14:27Sorj Chalendon, der jetzt
ein bekannter Schriftsteller ist -
14:27 - 14:30und den Journalistenjob nach einem
Trauma hingeschmissen hat. -
14:30 - 14:33Ich habe 4 oder 5 Freunde,
die sich das Leben genommen haben, -
14:33 - 14:34aufgrund ihres Traumas.
-
14:34 - 14:39Schafft man es aber, sich dem Tod
vor Augen zu widersetzen; -
14:39 - 14:43wenn wir als sterbliche menschliche Wesen,
als Sterbliche, als Menschen, -
14:43 - 14:46wenn wir verstehen, dass wir
menschlich und sterblich sind, -
14:46 - 14:51so schaffen wir es, dem Tod zu trotzen und
ihn wieder mit dieser Sache zu verbinden, -
14:51 - 14:54die die unbekannteste
aller unbekannten Welten ist, -
14:54 - 14:58weil sie ja noch nie jemand gesehen hat.
-
14:58 - 15:00Wenn wir es schaffen,
ihn damit zu verknüpfen, -
15:00 - 15:04ja, dann können wir sterben,
-
15:06 - 15:07überleben
-
15:08 - 15:09und wieder leben,
-
15:09 - 15:14jedoch viel stärker, stärker als zuvor --
sehr viel stärker. -
15:14 - 15:15Danke.
-
15:15 - 15:17(Applaus)
- Title:
- Das schreckliche Nachbeben einer Begegnung mit dem Tod
- Speaker:
- Jean-Paul Mari
- Description:
-
Im April 2003, zu Beginn der Stationierung der amerikanischen Truppen in Bagdad, trifft ein Projektil das Gebäude, in dem sich Schriftsteller und Kriegsberichterstatter Jean-Paul Mari aufhält. In diesem Augenblick sieht er dem Tod ins Auge und macht dadurch die Bekanntschaft mit einem Geist, der all diejenigen heimsucht, die seit jeher ihr Leben auf einem Schlachtfeld aufs Spiel gesetzt haben. "Was ist diese Sache, die ohne sichtbare Wunden tötet?", fragt sich Mari. Man kennt sie unter der Bezeichnung "Posttraumatische Belastungsstörung" – oder wie Mari sie beschreibt: "Die Begegnung mit dem Nichts des Todes". In seinem Vortrag sucht er nach Antworten auf das menschliche Sein, die Sterblichkeit und die Psychose in den Tiefen des Traumas, das das Grauen zurücklässt.
- Video Language:
- French
- Team:
- closed TED
- Project:
- TEDTalks
- Duration:
- 15:30
Nadine Hennig approved German subtitles for Jean-Paul Mari speaks at TEDxCannes | ||
Nadine Hennig accepted German subtitles for Jean-Paul Mari speaks at TEDxCannes | ||
Nadine Hennig edited German subtitles for Jean-Paul Mari speaks at TEDxCannes | ||
Hagen Hamm edited German subtitles for Jean-Paul Mari speaks at TEDxCannes | ||
Nadine Hennig declined German subtitles for Jean-Paul Mari speaks at TEDxCannes | ||
Nadine Hennig edited German subtitles for Jean-Paul Mari speaks at TEDxCannes | ||
Nadine Hennig edited German subtitles for Jean-Paul Mari speaks at TEDxCannes | ||
Hagen Hamm edited German subtitles for Jean-Paul Mari speaks at TEDxCannes |