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Das schreckliche Nachbeben einer Begegnung mit dem Tod

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    Es war der 8. April 2003,
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    und ich war in Bagdad,
    um über den Irakkrieg zu berichten.
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    Es war der Moment, als die Amerikaner
    mit ihren Panzern in Bagdad einfuhren.
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    Wir waren ein paar Journalisten
    im Palestine Hotel,
  • 0:22 - 0:27
    und -- Willkür des Kriegs --
    nun kam er auf uns zu,
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    unter uns, vor unseren Fenstern.
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    Bagdad war voll von
    schwarzem Rauch, von Öl;
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    es stank, man konnte nichts sehen,
    aber man sah doch das, was vor sich ging.
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    Und ich sollte natürlich
    einen Artikel schreiben,
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    so wie immer -- gleich
    am Tag des Geschehens.
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    Ich war in meinem Zimmer
    im 16. Stock einerseits am Schreiben,
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    aber ging doch ab und zu ans Fenster,
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    um zu sehen, was da passierte.
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    Und dann irgendwann
    gab es einen gewaltigen Schlag.
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    Seit drei Wochen hatte es
    keine Bombardierungen durch Raketen
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    und 500-Kilo-Bomben mehr gegeben,
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    doch hier, diesen Einschlag,
    den konnte ich in meinem Körper spüren.
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    Demnach war mir klar, dass es
    sehr, sehr nah passiert sein musste.
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    Ich ging also runter, um nachzusehen,
    was geschehen war,
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    runter in den 15. Stock,
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    und ich sah schreiende Menschen
    in den Gängen, Journalisten.
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    Ich ging in ein Zimmer
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    und mir wurde klar, dass dieses Zimmer
    von einem Projektil getroffen wurde.
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    Dort gab es auch einen Verwundeten.
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    Gleich neben dem Fenster, da war ein Mann,
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    ein Kameramann namens Taras Protsuyk,
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    hier lag er, auf dem Bauch.
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    Ich habe mal im Krankenhaus gearbeitet
    und wollte erste Hilfe leisten.
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    Aber als ich ihn herum drehte,
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    war er vom Brust- bis zum Schambein offen,
    ich sah jedoch überhaupt nichts.
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    Ich sah nur einen weißen Fleck,
    schimmernd, strahlend, der mich blendete,
  • 2:09 - 2:11
    und ich verstand nicht.
  • 2:11 - 2:15
    Dann verschwand der Fleck
    und ich sah die schwere Verletzung.
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    Mit ein paar Freunden
    legte ich ihn in ein Tuch.
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    Wir trugen ihn in einen Aufzug,
    der in jedem der 15 Stockwerke hielt,
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    legten ihn in ein Auto,
    das ihn ins Krankenhaus brachte.
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    Er starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus,
    und der spanische Kameramann, José Couso,
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    der selbst im 14. Stock war
    und ebenfalls getroffen wurde
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    -- das Geschoss traf nämlich genau
    zwischen die beiden Stockwerke --
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    verstarb auf dem Operationstisch.
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    Als ich zurückging,
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    nachdem das Auto abgefahren war,
    hatte ich einen Artikel zu schreiben,
  • 2:42 - 2:45
    den ich schreiben musste.
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    Und so bin ich die Sache angegangen ...
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    Ich ging zurück durch die Hotelhalle,
    die Arme voller Blut,
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    und da traf ich auf einen
    irakischen Handlanger, der mich anhielt,
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    um die zehn Tage Steuern einzufordern,
    die ich ihm noch schuldete.
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    Ich habe ihn zum Teufel gejagt
    und mir gesagt:
  • 3:02 - 3:06
    "Das musst du jetzt unbedingt
    ausblenden! Blende das aus!
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    Wenn du schreiben willst,
    musst du das ausblenden."
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    Das habe ich auch gemacht, ich ging
    nach oben und schrieb meinen Artikel,
  • 3:12 - 3:14
    den ich dann auch abgeschickt habe.
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    Danach aber,
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    nach dieser Affekthandlung, hat der Fakt,
    einige Kollegen verloren zu haben,
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    mich auf eine bestimmte Weise
    aus der Bahn geworfen:
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    Ich sah wieder diesen Fleck,
    strahlend, schimmernd,
  • 3:29 - 3:31
    und ich verstand nicht,
    was er zu bedeuten hatte.
  • 3:31 - 3:34
    Und so ging der Krieg zu Ende ...
  • 3:36 - 3:39
    Später sagte ich mir dann,
    dass das nicht sein kann.
  • 3:39 - 3:42
    Ich kann nicht nicht wissen,
    was da passiert ist.
  • 3:42 - 3:44
    Denn das war nicht das erste Mal;
  • 3:44 - 3:46
    hier geht es auch nicht bloß um mich.
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    Ich hatte bei anderen auch
    derartige Dinge wahrgenommen,
  • 3:49 - 3:53
    in 20 oder 35 Jahren
    der Berichterstattung.
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    Ich habe auch andere Dinge gesehen,
    die mir nahe gingen.
  • 3:57 - 4:00
    Zum Beispiel im Libanon,
    da kannte ich einen Mann,
  • 4:00 - 4:02
    einen Veteran, 25 Jahre alt,
    5 Jahre im Krieg,
  • 4:02 - 4:04
    weil er Veteran war,
    folgten wir ihm überall hin!
  • 4:04 - 4:08
    Er war jemand, der sich nachts
    mit absoluter Sicherheit bewegte --
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    ein großer, wahrer Soldat!
  • 4:10 - 4:12
    Daher folgten wir ihm,
  • 4:12 - 4:14
    denn wir wussten,
    dass wir mit ihm sicher waren.
  • 4:14 - 4:18
    Eines Tages wurde mir gesagt,
    und ich habe das geprüft,
  • 4:18 - 4:20
    dass er gerade in der Kaserne
    Karten spielte,
  • 4:20 - 4:26
    als jemand hinein kam, gleich nebenan,
    und seine Waffe abfeuerte.
  • 4:26 - 4:31
    Der Schuss ging ins Leere,
    aber allein dieser einfache Knall
  • 4:31 - 4:35
    hat ihn unter den Tisch kriechen lassen
    wie ein kleines Kind!
  • 4:35 - 4:37
    Er zitterte, er geriet in Panik!
  • 4:37 - 4:41
    Seither kam er nie mehr wieder
    auf die Beine, um zu kämpfen.
  • 4:41 - 4:42
    Als ich ihn wieder traf,
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    hatte er auch seinen Job als Croupier
    im Casino Beirut gekündigt,
  • 4:45 - 4:47
    weil er nicht mehr schlief.
  • 4:47 - 4:50
    Dabei war das eine Arbeit,
    die der Situation angepasst war.
  • 4:50 - 4:55
    Ich begann mich also zu fragen,
    was das für eine Sache ist,
  • 4:55 - 5:01
    die einen ohne sichtbare
    Verletzungen töten kann?
  • 5:01 - 5:03
    Was geht da vor sich?
  • 5:04 - 5:06
    Was ist das für eine unbekannte Sache?
  • 5:06 - 5:11
    Und es trat zu häufig auf,
    als dass es hätte Zufall sein können.
  • 5:11 - 5:14
    Ich begann daher, Nachforschungen
    anzustellen, das konnte ich schließlich.
  • 5:14 - 5:17
    Ich machte mich an die Arbeit,
  • 5:17 - 5:25
    und konsultierte Bücher, Psychiater,
    Museen, Bibliotheken usw.
  • 5:26 - 5:30
    Schließlich entdeckte ich, dass es
    Menschen gab, die Bescheid wussten.
  • 5:31 - 5:34
    Oft waren das militärische Psychiater.
  • 5:34 - 5:38
    Und wir standen etwas gegenüber,
    das man Trauma nennt,
  • 5:38 - 5:42
    -- im Englischen nennt man es PTSD,
    "Posttraumatische Belastungsstörung" --
  • 5:42 - 5:48
    das war etwas, das es in der Tat gibt,
  • 5:48 - 5:51
    worüber nur niemand jemals spricht.
  • 5:52 - 5:55
    Und was genau ist dieses Trauma?
  • 5:55 - 5:59
    Es ist eine Begegnung mit dem Tod.
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    Ich weiß nicht, ob Sie bereits dem Tod
    ins Gesicht gesehen haben, keine Leichen;
  • 6:03 - 6:07
    ich meine nicht den toten Körper des
    Großvaters auf dem Krankenbett. Nein!
  • 6:07 - 6:12
    Auch nicht eine Person,
    die auf der Straße überfahren wurde.
  • 6:12 - 6:17
    Ich spreche hier von der Begegnung
    mit dem Nichts des Todes.
  • 6:18 - 6:24
    Wir haben eigentlich nicht
    das Recht, es zu sehen.
  • 6:24 - 6:29
    Die alten Griechen sagten: "Der Sonne und
    dem Tod kann man nicht ins Auge sehen."
  • 6:29 - 6:34
    Der Mensch hat nicht das Recht,
    dem Nichts des Todes ins Auge zu sehen.
  • 6:34 - 6:41
    Und wenn das passiert, kann es
    für einige Zeit unsichtbar bleiben,
  • 6:41 - 6:44
    für Tage, Wochen, Monate,
    manchmal auch für Jahre.
  • 6:44 - 6:50
    Und dann bricht es plötzlich hervor,
    denn es ist eine Sache,
  • 6:50 - 6:54
    die tief im Gehirn steckt,
    eine Art Fenster
  • 6:54 - 6:59
    zwischen einem Bild und dem Gehirn,
    das sich im Gehirn eingenistet hat,
  • 6:59 - 7:04
    das dort verblieben ist und den gesamten
    Platz in unserem Gehirn einnehmen wird.
  • 7:05 - 7:08
    Da sind dann die Leute, Männer und Frauen,
  • 7:09 - 7:11
    die plötzlich nicht mehr schlafen
  • 7:12 - 7:15
    und entsetzliche Anfälle
    von Angst und Panik erleben!
  • 7:15 - 7:17
    Richtige Panikattacken!
    Keine kurzen Schreckmomente.
  • 7:17 - 7:21
    Menschen, die auf einmal nicht mehr
    schlafen wollen, da sie im Schlaf
  • 7:21 - 7:24
    jede einzelne Nacht
    denselben Albtraum haben,
  • 7:24 - 7:26
    jede Nacht dasselbe Bild.
  • 7:26 - 7:27
    Welches Bild?
  • 7:27 - 7:31
    Dieses Bild ist z. B. ein Kombattant,
    der in ein Gebäude vordringt
  • 7:31 - 7:34
    und dort einem anderen Kombattanten
    begegnet, der auf ihn zielt.
  • 7:34 - 7:37
    Er sieht den Gewehrlauf,
    blickt direkt in die Öffnung,
  • 7:37 - 7:40
    und diese wird auf einmal
    riesengroß, verformt sich,
  • 7:40 - 7:44
    wird plötzlich zu Watte
    und verschluckt alles.
  • 7:46 - 7:51
    Danach sagt er: "Ich habe den Tod gesehen,
    ich habe mich tot gesehen, ich bin tot."
  • 7:51 - 7:55
    Und von diesem Moment an
    weiß er, dass er tot ist.
  • 7:55 - 8:00
    Das ist keine bloße Empfindung;
    er ist davon überzeugt, tot zu sein.
  • 8:00 - 8:03
    Und dieser Gewehrlauf, einer von vielen,
    dass der andere nicht schießt,
  • 8:03 - 8:07
    unwichtig, denn in diesem
    einen Moment ist er tot.
  • 8:07 - 8:09
    Das kann auch der Geruch
    von Massengräbern sein.
  • 8:09 - 8:11
    Davon habe ich viele in Ruanda gesehen.
  • 8:11 - 8:15
    Das kann die Stimme eines Freundes sein,
    den man rufen hört,
  • 8:15 - 8:19
    der gerade umgebracht wird
    und dem man nicht helfen kann.
  • 8:19 - 8:20
    Man hört diese Stimme.
  • 8:20 - 8:23
    Jede Nacht, über Wochen und Monate,
  • 8:23 - 8:26
    wacht dieser Mann dann davon auf --
  • 8:26 - 8:29
    voller Angst und Schrecken,
    panisch, wie ein Kind.
  • 8:29 - 8:34
    Ich habe einige Männer weinen
    sehen, wie kleine Kinder,
  • 8:34 - 8:38
    wegen der wiederholten Konfrontation
    mit demselben Bild.
  • 8:38 - 8:41
    Im Gehirn dieses Menschen aber
    wird dieses Bild des Grauens,
  • 8:43 - 8:45
    das Nichts des Todes,
  • 8:45 - 8:47
    welches man als Analogon bezeichnet,
  • 8:47 - 8:48
    d. h. ein Bild, das etwas versteckt,
  • 8:48 - 8:49
    wird alles bestimmen.
  • 8:49 - 8:52
    Er kann überhaupt nichts
    mehr tun. Rein gar nichts.
  • 8:52 - 8:54
    Er kann nicht mehr arbeiten,
    er kann nicht mehr lieben.
  • 8:54 - 8:59
    Er kommt heim, erkennt niemanden mehr.
    Er erkennt sich selbst nicht mehr.
  • 9:00 - 9:05
    Er versteckt sich, bleibt zu Hause,
    zieht sich komplett zurück!
  • 9:05 - 9:08
    Ich kenne welche, die draußen kleine
    Dosen mit Kleingeld platziert haben,
  • 9:08 - 9:11
    für den Fall, dass jemand vorbeikommt.
  • 9:11 - 9:13
    Und plötzlich möchte er sterben,
    er möchte töten,
  • 9:13 - 9:16
    er möchte sich verstecken,
    er möchte flüchten,
  • 9:16 - 9:18
    er möchte geliebt werden,
    er hasst aber die Menschen,
  • 9:18 - 9:24
    und irgendetwas ergreift von ihm Besitz,
    von morgens bis abends,
  • 9:24 - 9:29
    und er leidet außerordentlich.
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    Und die anderen verstehen ihn nicht!
  • 9:31 - 9:33
    Die anderen sagen:
    "Aber du hast doch nichts!
  • 9:33 - 9:37
    Dir geht's gut, hast keine Verletzungen,
    kamst unversehrt aus dem Krieg zurück."
  • 9:37 - 9:41
    Diese Personen erleiden das Martyrium
    still und manche begehen gar Selbstmord:
  • 9:41 - 9:45
    durch Selbstmord synchronisiert man ja
    lediglich Wirklichkeit mit Empfinden,
  • 9:45 - 9:47
    weil ich ja ohnehin schon tot bin.
  • 9:47 - 9:49
    Bringe ich mich um, passt das.
    Und der Schmerz hört auf.
  • 9:49 - 9:50
    Manche bringen sich um,
  • 9:50 - 9:52
    andere enden unter der Brücke,
  • 9:52 - 9:53
    fangen an zu trinken...
  • 9:53 - 9:57
    Wir alle haben diese Geschichte im Kopf,
    von diesem Großvater, diesem Onkel
  • 9:57 - 9:59
    oder diesem Nachbarn, der trank,
    der nicht mehr sprach,
  • 9:59 - 10:01
    der stets mürrisch war,
    der seine Frau schlug
  • 10:01 - 10:05
    und der sein Ende im Suff
    oder im Tod gefunden hat.
  • 10:05 - 10:09
    Und sie sprechen nicht darüber, wieso?
    Man spricht nicht darüber, warum?
  • 10:09 - 10:10
    Weil es tabu ist!
  • 10:10 - 10:13
    Es ist nicht so, als hätte
    der Mensch nicht die Worte,
  • 10:13 - 10:16
    um vom Nichts des Todes zu sprechen.
  • 10:16 - 10:18
    Die anderen aber können es
    nicht nachvollziehen!
  • 10:18 - 10:20
    Zurück von der Arbeit
    hieß es anfangs noch:
  • 10:20 - 10:22
    "Ah, da kommt der Reporter!"
  • 10:22 - 10:23
    Beim Abendessen mit weißem Tischtuch,
  • 10:23 - 10:25
    Kerzen und Gästen.
  • 10:25 - 10:27
    "Los, berichte!" Ich begann zu erzählen.
  • 10:27 - 10:30
    Nach 20 Minuten sahen mich alle schief an,
  • 10:30 - 10:32
    die Dame des Hauses hatte
    die Nase im Aschenbecher,
  • 10:32 - 10:34
    kurzum, die Leute waren entsetzt
  • 10:34 - 10:37
    und mir wurde klar, dass ich
    den kompletten Abend ruiniert hatte.
  • 10:37 - 10:41
    Deswegen erzähle ich heute nichts mehr,
    die Leute wollen das nicht hören
  • 10:41 - 10:42
    und sagen: "Hör bloß auf!"
  • 10:42 - 10:45
    Sind das nur Einzelfälle? Nein.
    Das tritt sehr häufig auf!
  • 10:45 - 10:50
    Ein Drittel der Soldaten im Irak starb --
    ähm, "starb'" verzeihen Sie den Fehler.
  • 10:50 - 10:55
    Ein Drittel der irakischen Soldaten,
    Amerikaner im Irak, leidet an PTSD.
  • 10:55 - 10:59
    1939 gab es in britischen Psychiatrien
  • 10:59 - 11:05
    noch 200 000 Soldaten
    aus dem Ersten Weltkrieg.
  • 11:05 - 11:09
    In Vietnam hat es 54 000 tote
    Amerikaner gegeben.
  • 11:09 - 11:14
    1987 hat die amerikanische Regierung
    102 000 -- zwei mal so viel --
  • 11:14 - 11:17
    102 000 von Veteranen begangene
    Suizide verzeichnet --
  • 11:17 - 11:19
    doppelt so viele Gefallene
    wie in Vietnam selbst.
  • 11:19 - 11:22
    Sie sehen, das ist eine Sache,
    die alle Bereiche abdeckt!
  • 11:22 - 11:25
    Nicht bloß die heutigen Kriege,
    die vergangenen Kriege --
  • 11:25 - 11:28
    man findet sie in alten Aufzeichnungen,
    in unterschiedlichster Form!
  • 11:28 - 11:33
    Warum spricht man nicht darüber?
    Warum hat man nicht darüber gesprochen?
  • 11:33 - 11:35
    Denn das Problem ist doch,
  • 11:35 - 11:40
    dass wenn dieser Mann
    nicht spricht, er zugrunde geht.
  • 11:40 - 11:45
    Der einzige Weg der Behandlung,
  • 11:45 - 11:48
    denn die gute Nachricht bei der Sache ist,
    dass es einen Ausweg gibt:
  • 11:49 - 11:52
    "Der Schrei" von Munch, Goya etc. --
    ja, es gibt Besserung!
  • 11:52 - 11:57
    Die einzige Möglichkeit,
    dieses Trauma zu verarbeiten,
  • 11:57 - 12:02
    -- diese Begegnung mit dem Tod, die Sie
    kalt erwischt, Sie lähmt, Sie tötet --
  • 12:02 - 12:06
    ist es zu schaffen,
    darüber zu sprechen.
  • 12:06 - 12:08
    Es heißt schließlich:
  • 12:08 - 12:12
    "Uns Menschen hält nur
    die Sprache zusammen."
  • 12:12 - 12:14
    Wenn es keine Sprache mehr gibt,
    sind wir nichts mehr.
  • 12:14 - 12:17
    Nur deswegen sind wir überhaupt Menschen.
  • 12:17 - 12:19
    Und angesichts dieses Schreckensbildes,
  • 12:19 - 12:21
    das nicht durch Worte beschrieben ist,
  • 12:21 - 12:25
    denn es ist allein ein Bild
    dieses Nichts, das uns quält.
  • 12:25 - 12:27
    Es in menschliche Worte zu fassen,
  • 12:27 - 12:30
    ist die einzige Möglichkeit,
    damit zurechtzukommen.
  • 12:30 - 12:34
    Denn diese Leute fühlen sich nicht mehr
    menschlich: Man will sie nicht mehr sehen
  • 12:34 - 12:36
    und sie selbst wollen
    niemanden mehr sehen.
  • 12:36 - 12:38
    Sie fühlen sich schmutzig, übel, beschämt.
  • 12:38 - 12:40
    Einer sagte mal: "Wissen Sie, Doktor,
  • 12:40 - 12:42
    ich fahre nicht mehr mit der Metro,
  • 12:42 - 12:44
    weil ich Angst habe,
    dass die Leute all das Grauen
  • 12:44 - 12:45
    in meinen Augen sehen."
  • 12:45 - 12:46
    Ein anderer sagte --
  • 12:46 - 12:50
    er hatte eine schlimme Hautkrankheit,
    verbrachte 6 Monate in der Dermatologie --
  • 12:50 - 12:52
    er ging von einer Behandlung
    zur nächsten, bis er sagte,
  • 12:52 - 12:54
    er möchte zum Psychiater
    überwiesen werden.
  • 12:54 - 12:57
    In der zweiten Sitzung
    sagte er zum Psychiater
  • 12:57 - 12:59
    (er hatte von Kopf bis Fuß
    diese schlimme Hautkrankheit)
  • 12:59 - 13:02
    der Arzt fragte: "Aber wieso sind Sie
    in diesem Zustand?"
  • 13:02 - 13:06
    Und der Mann antwortete: "Weil ich tot bin
    natürlich, deswegen zersetze ich mich."
  • 13:06 - 13:10
    Sie sehen also, dass das eine Sache ist,
    die bis ins Tiefste des Menschen reicht.
  • 13:10 - 13:16
    Um zu heilen, muss man darüber sprechen,
    das Grauen in Worte fassen,
  • 13:16 - 13:20
    Worte von Menschlichkeit; versuchen,
    zu bezwingen, erneut darüber zu sprechen.
  • 13:20 - 13:25
    Man muss dem Tod ins Gesicht schauen.
  • 13:25 - 13:30
    Und wenn einem das gelingt,
    wenn man über diese Dinge spricht,
  • 13:30 - 13:34
    in diesem Moment, Stück für Stück,
    durch diese Arbeit mit Worten,
  • 13:34 - 13:37
    schafft man es auch, seinen Teil
    an Menschlichkeit wiederzuerlangen.
  • 13:37 - 13:41
    Und das ist wichtig!
    Das Schweigen tötet uns!
  • 13:41 - 13:45
    Was heißt das genau?
    Das heißt, dass nachdem ...
  • 13:45 - 13:46
    ah, offensichtlich haben wir
  • 13:46 - 13:49
    unsere unhaltbare Leichtigkeit
    des Seins verloren.
  • 13:49 - 13:52
    Wir haben unser Gefühl von Ewigkeit
    verloren, das uns hier sein lässt.
  • 13:52 - 13:55
    Wenn Sie hier sind, nützt Ihnen
    das Gefühl, ewig zu sein.
  • 13:55 - 13:56
    Doch Sie sind es nicht!
  • 13:56 - 13:59
    Aber andernfalls würden Sie sagen:
    "Was soll das Ganze?"
  • 13:59 - 14:02
    Diese Menschen haben dieses
    Gefühl von Ewigkeit verloren.
  • 14:02 - 14:06
    Sie haben ihre Leichtigkeit verloren. Aber
    sie haben etwas anderes wiedergefunden!
  • 14:06 - 14:08
    Das heißt, schafft man es,
    dem Tod ins Gesicht zu blicken
  • 14:09 - 14:14
    und diesem zu trotzen, anstatt
    zu schweigen und sich zu verstecken ...
  • 14:15 - 14:18
    da sind diese Männer und Frauen,
    die ich kenne -- Michaël aus Ruanda,
  • 14:18 - 14:24
    Carole aus dem Irak, Philippe aus dem
    Kongo, all diese Menschen, die ich kannte,
  • 14:24 - 14:27
    Sorj Chalendon, der jetzt
    ein bekannter Schriftsteller ist
  • 14:27 - 14:30
    und den Journalistenjob nach einem
    Trauma hingeschmissen hat.
  • 14:30 - 14:33
    Ich habe 4 oder 5 Freunde,
    die sich das Leben genommen haben,
  • 14:33 - 14:34
    aufgrund ihres Traumas.
  • 14:34 - 14:39
    Schafft man es aber, sich dem Tod
    vor Augen zu widersetzen;
  • 14:39 - 14:43
    wenn wir als sterbliche menschliche Wesen,
    als Sterbliche, als Menschen,
  • 14:43 - 14:46
    wenn wir verstehen, dass wir
    menschlich und sterblich sind,
  • 14:46 - 14:51
    so schaffen wir es, dem Tod zu trotzen und
    ihn wieder mit dieser Sache zu verbinden,
  • 14:51 - 14:54
    die die unbekannteste
    aller unbekannten Welten ist,
  • 14:54 - 14:58
    weil sie ja noch nie jemand gesehen hat.
  • 14:58 - 15:00
    Wenn wir es schaffen,
    ihn damit zu verknüpfen,
  • 15:00 - 15:04
    ja, dann können wir sterben,
  • 15:06 - 15:07
    überleben
  • 15:08 - 15:09
    und wieder leben,
  • 15:09 - 15:14
    jedoch viel stärker, stärker als zuvor --
    sehr viel stärker.
  • 15:14 - 15:15
    Danke.
  • 15:15 - 15:17
    (Applaus)
Title:
Das schreckliche Nachbeben einer Begegnung mit dem Tod
Speaker:
Jean-Paul Mari
Description:

Im April 2003, zu Beginn der Stationierung der amerikanischen Truppen in Bagdad, trifft ein Projektil das Gebäude, in dem sich Schriftsteller und Kriegsberichterstatter Jean-Paul Mari aufhält. In diesem Augenblick sieht er dem Tod ins Auge und macht dadurch die Bekanntschaft mit einem Geist, der all diejenigen heimsucht, die seit jeher ihr Leben auf einem Schlachtfeld aufs Spiel gesetzt haben. "Was ist diese Sache, die ohne sichtbare Wunden tötet?", fragt sich Mari. Man kennt sie unter der Bezeichnung "Posttraumatische Belastungsstörung" – oder wie Mari sie beschreibt: "Die Begegnung mit dem Nichts des Todes". In seinem Vortrag sucht er nach Antworten auf das menschliche Sein, die Sterblichkeit und die Psychose in den Tiefen des Traumas, das das Grauen zurücklässt.

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Video Language:
French
Team:
closed TED
Project:
TEDTalks
Duration:
15:30

German subtitles

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