Susan Cain: Die Macht der Introvertierten
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0:00 - 0:02Als ich neun Jahre alt war,
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0:02 - 0:04fuhr ich zum ersten Mal ins Ferienlager.
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0:04 - 0:06Meine Mutter packte mir einen Koffer
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0:06 - 0:08voller Bücher,
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0:08 - 0:10was mir wie eine ganz normale Sache vorkam.
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0:10 - 0:12Denn in meiner Familie
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0:12 - 0:15war die wichtigste Gruppenaktivität das Lesen.
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0:15 - 0:17Dies mag Ihnen ungesellig vorkommen,
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0:17 - 0:20aber für uns war das eben eine andere Art des Zusammenseins.
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0:20 - 0:22Eingenistet in die Wärme der Familie,
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0:22 - 0:24die einen umgibt,
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0:24 - 0:26kann man zugleich in dem Abenteuerland im eigenen Kopf
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0:26 - 0:28umherstreifen.
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0:28 - 0:30Ich stellte mir vor, dass es
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0:30 - 0:32im Ferienlager auch so sein würde, nur noch besser.
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0:32 - 0:35(Lachen)
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0:35 - 0:38Ich stellte mir zehn Mädchen vor, die in einer Hütte sitzen,
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0:38 - 0:40und in aufeinander abgestimmten Nachthemden Bücher lesen.
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0:40 - 0:42(Lachen)
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0:42 - 0:45Das Ferienlager war eher wie eine Studentenparty ohne Alkohol.
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0:45 - 0:48Und am ersten Tag
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0:48 - 0:50ließ unsere Gruppenleiterin uns antreten
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0:50 - 0:52und lehrte uns unser Motto, das wir nun jeden Tag
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0:52 - 0:54für den Rest des Sommers vortragen mussten,
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0:54 - 0:56um den Gemeinschaftssinn zu wecken.
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0:56 - 0:58Und das ging so:
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0:58 - 1:00"R-O-W-D-I-E,
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1:00 - 1:02ja, so schreiben wir 'rowdie' ['rauflustig'].
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1:02 - 1:05Rowdie, rowdie, wir sind rowdie."
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1:07 - 1:09Tja.
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1:09 - 1:11Es war mir ein totales Rätsel,
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1:11 - 1:13wieso wir so rauflustig sein sollten,
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1:13 - 1:16und das Wort auch noch falsch schreiben mussten.
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1:16 - 1:22(Lachen)
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1:22 - 1:25Aber ich sang das Motto. Ich sang es mit allen anderen.
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1:25 - 1:27Ich gab mein Bestes.
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1:27 - 1:29Und ich wartete einfach darauf,
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1:29 - 1:32dass ich meine Bücher lesen gehen konnte.
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1:32 - 1:34Aber als ich das erste Mal mein Buch aus meinem Koffer nahm,
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1:34 - 1:36kam das coolste Mädchen im Schlafraum zu mir
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1:36 - 1:39und fragte mich: "Wieso bist du denn so ruhig?" –
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1:39 - 1:41Das war natürlich das genaue Gegenteil von
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1:41 - 1:43R-O-W-D-I-E.
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1:43 - 1:45Und als ich es das zweite Mal versuchte,
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1:45 - 1:48kam die Gruppenleiterin zu mir mit einem ganz besorgten Gesichtsausdruck
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1:48 - 1:50und wiederholte ihre Aussage über Gemeinschaftsgeist
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1:50 - 1:52und dass wir alle hart daran arbeiten sollten,
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1:52 - 1:54kontaktfreudig zu sein.
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1:54 - 1:57Also legte ich meine Bücher weg,
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1:57 - 2:00zurück in ihren Koffer,
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2:00 - 2:04und packte sie wieder unter mein Bett,
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2:04 - 2:06wo sie den Rest des Sommers blieben.
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2:06 - 2:08Ich fühlte mich deswegen etwas schuldig.
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2:08 - 2:10Ich fühlte, dass die Bücher mich brauchten,
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2:10 - 2:13sie riefen mich und ich ließ sie im Stich.
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2:13 - 2:15Aber ich öffnete den Koffer nicht mehr,
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2:15 - 2:17bis ich am Ende des Sommers
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2:17 - 2:19wieder zu Hause bei meiner Familie war.
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2:19 - 2:22Jetzt habe ich mich für diese Geschichte entschieden.
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2:22 - 2:25Ich hätte Ihnen 50 andere genau wie diese erzählen können –
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2:25 - 2:27bei jeder wurde mir vermittelt,
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2:27 - 2:31dass mein ruhiges und introvertiertes Wesen
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2:31 - 2:33irgendwie nicht der richtige Weg war,
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2:33 - 2:36dass ich doch versuchen sollte, mehr extrovertiert zu sein.
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2:36 - 2:39Und tief in meinem Innern empfand ich dies immer als falsch,
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2:39 - 2:41dass Introvertierte ziemlich großartig waren, so wie sie waren.
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2:41 - 2:44Aber ich verleugnete diese Intuition über Jahre hinweg
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2:44 - 2:47und wurde ausgerechnet Anwältin an der Wall Street,
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2:47 - 2:50anstatt der Schriftstellerin, wie ich es mir immer gewünscht hatte –
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2:50 - 2:52teils, weil ich mir beweisen musste,
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2:52 - 2:54dass ich auch mutig und bestimmend sein kann.
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2:54 - 2:56Und ich ging immer in volle Bars, obwohl
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2:56 - 2:59ich ein schönes Abendessen mit Freunden eigentlich bevorzugt hätte.
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2:59 - 3:02Und diese selbstverneinenden Entscheidungen
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3:02 - 3:04traf ich so instinktiv,
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3:04 - 3:07dass ich mir ihrer nicht einmal bewusst war.
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3:07 - 3:09Viele Introvertierte machen dies,
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3:09 - 3:11sicher ein Verlust für uns,
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3:11 - 3:13aber auch ein Verlust für unsere Kollegen
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3:13 - 3:15und unsere Gemeinschaft.
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3:15 - 3:18Ein Verlust für die Welt, auch wenn das hochtrabend klingen mag.
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3:18 - 3:21Denn wenn es um Kreativität und Führungsverhalten geht,
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3:21 - 3:24brauchen wir Introvertierte, die tun was, sie am besten können.
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3:24 - 3:26Ein Drittel bis zu einer Hälfte der Bevölkerung ist introvertiert –
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3:26 - 3:28ein Drittel bis zu einer Hälfte.
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3:28 - 3:31Das ist einer von zwei oder drei Ihrer Bekannten.
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3:31 - 3:34Auch wenn Sie vielleicht selbst extrovertiert sind,
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3:34 - 3:36dann spreche ich über Ihre Kollegen,
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3:36 - 3:38über Ihre Partner, Ihre Kinder
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3:38 - 3:41und die Person, die jetzt neben Ihnen sitzt –
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3:41 - 3:43sie alle unterliegen dieser Voreingenommenheit,
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3:43 - 3:45die tief in unserer Gesellschaft verankert ist.
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3:45 - 3:48Wir verinnerlichen das schon früh,
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3:48 - 3:51ohne für das, was wir tun, Worte zu haben.
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3:51 - 3:53Um diese Voreingenommenheit zu verstehen,
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3:53 - 3:56muss man verstehen, was Introversion ist.
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3:56 - 3:58Sie unterscheidet sich von Schüchternheit.
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3:58 - 4:00Bei Schüchternheit geht es um Angst vor gesellschaftlichem Urteil.
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4:00 - 4:02Bei Introversion geht es darum,
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4:02 - 4:04wie wir auf Stimulation reagieren,
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4:04 - 4:06das beinhaltet gesellschaftliche Stimulation.
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4:06 - 4:09Extrovertierte sehnen sich nach viel Stimulation,
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4:09 - 4:11Introvertierte jedoch fühlen sich am lebendigsten,
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4:11 - 4:13am aktivsten und am fähigsten
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4:13 - 4:15in einer ruhigeren, gemäßigteren Umgebung.
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4:15 - 4:17Nicht immer – das gilt nicht uneingeschränkt –
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4:17 - 4:19aber doch ziemlich oft.
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4:19 - 4:21Der Schlüssel dazu, unsere
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4:21 - 4:24Talente auf ein Höchstmaß zu bringen,
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4:24 - 4:26ist der, uns in den für uns
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4:26 - 4:29richtigen Bereich der Stimulation zu begeben.
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4:29 - 4:31Doch hier kommt diese Voreingenommenheit ins Spiel.
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4:31 - 4:33Unsere wichtigsten Einrichtungen,
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4:33 - 4:35unsere Schulen und Arbeitsplätze,
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4:35 - 4:37sind hauptsächlich für Extrovertierte entworfen,
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4:37 - 4:40und Extrovertierte benötigen viel Stimulation.
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4:40 - 4:44Außerdem gibt es zurzeit dieses Glaubenssystem,
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4:44 - 4:46was ich das neue Gruppendenken nenne,
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4:46 - 4:49welches besagt, dass alle Kreativität und Produktivität
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4:49 - 4:53einem seltsam geselligen Ort entspringt.
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4:54 - 4:56Stellen Sie sich ein heutiges Klassenzimmer vor:
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4:56 - 4:58Als ich zur Schule ging,
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4:58 - 5:00saßen wir in Reihen.
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5:00 - 5:02Unsere Schreibtische waren in Reihen angeordnet,
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5:02 - 5:04und wir machten unsere Arbeit meist recht selbstständig.
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5:04 - 5:06Heute jedoch hat ein typisches Klassenzimmer
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5:06 - 5:08Tischgruppen –
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5:08 - 5:11vier, fünf, sechs oder sieben Kinder sehen sich an.
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5:11 - 5:13Und Kinder machen unzählige Gruppenaufgaben.
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5:13 - 5:16Sogar in Fächern wie Mathematik und kreativem Schreiben,
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5:16 - 5:19bei denen man alleiniges Denken für den Schlüssel halten könnte,
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5:19 - 5:23werden Kinder nun in Ausschüsse verdonnert.
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5:23 - 5:25Und die Kinder, die lieber
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5:25 - 5:27für sich selbst sind oder gern allein arbeiten,
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5:27 - 5:29diese Kinder werden oft als Sonderfälle eingestuft,
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5:29 - 5:31oder, schlimmer noch, Problemfälle.
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5:33 - 5:36Die große Mehrheit der Lehrer glaubt,
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5:36 - 5:38dass der ideale Schüler extrovertiert ist,
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5:38 - 5:40im Gegensatz zu introvertiert,
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5:40 - 5:42obwohl Introvertierte tatsächlich bessere Noten bekommen
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5:42 - 5:44und über mehr Wissen verfügen,
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5:44 - 5:46so die Forschung.
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5:46 - 5:48(Lachen)
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5:48 - 5:51Okay, und genauso ist es an unserem Arbeitsplatz.
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5:51 - 5:54Die meisten von uns arbeiten in Großraumbüros,
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5:54 - 5:56ohne Wände,
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5:56 - 5:58in denen wir konstant dem
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5:58 - 6:00Lärm und den Blicken unserer Kollegen ausgesetzt sind.
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6:00 - 6:02Und wenn es um Führungskraft geht,
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6:02 - 6:04dann werden die Introvertierten regelmäßig bei Führungsrollen übergangen,
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6:04 - 6:06obwohl Introvertierte eher zur Vorsicht neigen,
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6:06 - 6:08viel seltener unüberschaubare Risiken auf sich nehmen –
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6:08 - 6:12etwas, das wir heutzutage vielleicht gern sehen würden.
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6:12 - 6:15Eine interessante Studie von Adam Grant an der Wharton School zeigt,
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6:15 - 6:17dass introvertierte Führungspersonen
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6:17 - 6:19häufig bessere Resultate liefern als extrovertierte,
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6:19 - 6:22da sie beim Managen von Angestellten mit Eigeninitiative
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6:22 - 6:25diese Angestellten eher ihren eigenen Ideen nachgehen lassen,
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6:25 - 6:27wohingegen Extrovertierte, durchaus unabsichtlich,
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6:27 - 6:29sich für Dinge so begeistern können,
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6:29 - 6:31dass sie selbst die Dinge prägen.
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6:31 - 6:33Und die Ideen anderer Personen kommen dann vielleicht
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6:33 - 6:36nicht ganz so einfach hervor.
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6:36 - 6:39Einige der transformativsten Führungspersonen der Geschichte waren introvertiert.
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6:39 - 6:41Hier sind einige Beispiele.
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6:41 - 6:44Eleanor Roosevelt, Rosa Parks, Gandhi –
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6:44 - 6:46sie alle beschrieben sich als
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6:46 - 6:49sanft, leise und sogar schüchtern.
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6:49 - 6:51Und sie alle traten ins Rampenlicht,
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6:51 - 6:53auch wenn jede Faser ihres Körpers
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6:53 - 6:56ihnen sagte, dies nicht zu tun.
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6:56 - 6:58Es stellt sich heraus, dass dem eine eigene Kraft innewohnt,
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6:58 - 7:01denn die Leute spüren, dass diese Anführer am Steuer waren,
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7:01 - 7:03nicht weil sie gerne andere leiten,
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7:03 - 7:05und nicht weil sie es genießen, gesehen zu werden,
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7:05 - 7:07sie waren da, weil sie keine andere Wahl hatten,
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7:07 - 7:10weil sie dazu getrieben waren, das zu tun, was sie für richtig hielten.
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7:11 - 7:14Nun ist es für mich wichtig zu sagen,
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7:14 - 7:17dass ich Extrovertierte wirklich liebe.
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7:17 - 7:20Einige meiner besten Freunde sind extrovertiert,
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7:20 - 7:22das schließt meinen geliebten Mann ein.
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7:24 - 7:26Und wir alle stehen an unterschiedlichen Stellen
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7:26 - 7:29des introvertiert/extrovertiert-Spektrums.
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7:29 - 7:32Selbst Carl Jung, der Psychologe, der diese Begriffe prägte,
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7:32 - 7:34sagte, dass es so etwas wie einen reinen Introvertierten
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7:34 - 7:36oder reinen Extrovertierten nicht gibt.
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7:36 - 7:38Er sagte, dass so ein Mensch in einer Irrenanstalt stecken würde,
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7:38 - 7:41wenn er überhaupt existierte.
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7:41 - 7:43Und einige Leute sind genau in der Mitte
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7:43 - 7:45des introvertiert/extrovertiert-Spektrums.
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7:45 - 7:47Man nennt sie ambivertiert.
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7:47 - 7:50Oft denke ich, dass sie das beste beider Welten in sich haben.
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7:51 - 7:54Doch viele von uns erkennen, dass wir der eine oder andere Typ sind.
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7:54 - 7:57Und ich möchte sagen, dass wir kulturell mehr Ausgewogenheit brauchen.
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7:57 - 7:59Wir brauchen eher ein Yin und Yang
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7:59 - 8:01zwischen diesen beiden Typen.
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8:01 - 8:03Dies ist besonders wichtig,
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8:03 - 8:05wenn es um Kreativität und Produktivität geht,
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8:05 - 8:07denn wenn Psychologen das
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8:07 - 8:09Leben der kreativsten Leute betrachten,
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8:09 - 8:11finden sie,
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8:11 - 8:13dass es Leute sind, die sehr gut Ideen austauschen
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8:13 - 8:15und Ideen vorantreiben können,
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8:15 - 8:18aber auch einen kräftigen introvertierten Charakterzug haben.
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8:18 - 8:20Denn Alleinsein ist häufig eine entscheidende
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8:20 - 8:22Zutat von Kreativität.
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8:22 - 8:24Darwin machte allein
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8:24 - 8:26lange Spaziergänge im Wald
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8:26 - 8:29und lehnte Einladungen zu Dinnerpartys nachdrücklich ab.
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8:29 - 8:32Theodor Geisel, besser bekannt als Dr. Seuss,
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8:32 - 8:34dachte sich viele seiner fantastischen Schöpfungen
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8:34 - 8:36in seinem einsamen Büro im Glockenturm
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8:36 - 8:39im hinteren Teil seines Hauses in La Jolla, Kalifornien aus.
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8:39 - 8:41Er hatte tatsächlich Angst davor,
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8:41 - 8:43die jungen Kinder zu treffen, die seine Bücher lasen,
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8:43 - 8:45weil er befürchtete, sie würden ihn als
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8:45 - 8:47eine Art fröhlichen Weihnachtsmann erwarten
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8:47 - 8:51und würden von seiner zurückhaltenderen Persönlichkeit enttäuscht sein.
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8:51 - 8:53Steve Wozniak erfand den ersten Apple-Computer,
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8:53 - 8:55als er allein in seiner Schreibtischecke
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8:55 - 8:57bei Hewlett-Packard saß, wo er damals arbeitete.
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8:57 - 9:00Und er sagte, dass er niemals so ein Experte geworden wäre,
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9:00 - 9:03wenn er nicht zu introvertiert gewesen wäre,
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9:03 - 9:05in seiner Jugend das Haus zu verlassen.
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9:05 - 9:08Natürlich heißt das nicht, dass
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9:08 - 9:11wir alle aufhören sollten, zusammenzuarbeiten –
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9:11 - 9:14und Beispiel dafür ist das Zusammentreffen von Steve Wozniak mit Steve Jobs,
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9:14 - 9:17um Apple zu gründen –
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9:17 - 9:20aber es bedeutet, dass das Alleinsein einen Wert hat
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9:20 - 9:22und es für einige Leute
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9:22 - 9:24die Luft zum Atmen darstellt.
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9:24 - 9:27Tatsächlich wissen wir seit Jahrhunderten
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9:27 - 9:30um die überweltliche Kraft des Alleinseins.
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9:30 - 9:33Erst kürzlich haben wir seltsamerweise begonnen, dies zu vergessen.
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9:33 - 9:36Schauen wir uns die Weltreligionen an:
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9:36 - 9:38Wir finden Suchende –
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9:38 - 9:41Moses, Jesus, Buddha, Mohammed –
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9:41 - 9:43Suchende, die sich allein auf den Weg
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9:43 - 9:45in die Wildnis begeben,
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9:45 - 9:47wo sie tief greifende Erleuchtung und Offenbarungen erfahren,
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9:47 - 9:50die sie dann zurück in die Gesellschaft bringen.
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9:50 - 9:54Keine Erleuchtung ohne Wildnis.
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9:54 - 9:56Das ist nicht überraschend,
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9:56 - 9:59wenn man sich die Erkenntnisse zeitgenössischer Psychologie anschaut.
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9:59 - 10:02Es stellt sich heraus, dass wir nicht Teil einer Gruppe sein können,
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10:02 - 10:05ohne instinktiv die Meinung der anderen zu imitieren.
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10:05 - 10:07Selbst wenn es um scheinbar persönliche, instinktive Dinge geht,
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10:07 - 10:09etwa zu wem man sich hingezogen fühlt,
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10:09 - 10:12äfft man die Überzeugungen der Leute um einen herum nach,
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10:12 - 10:14ohne zu erkennen, dass man das tut.
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10:14 - 10:17Und Gruppen folgen bekanntermaßen den Meinungen
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10:17 - 10:19der dominantesten oder charismatischsten Person im Raum,
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10:19 - 10:21obwohl der Zusammenhang zwischen
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10:21 - 10:24dem besten Redner und dem besten Denker null ist –
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10:24 - 10:26wirklich null.
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10:26 - 10:28Also ...
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10:28 - 10:30(Lachen)
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10:30 - 10:33Vielleicht sind Sie Anhänger der Person mit den besten Ideen,
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10:33 - 10:35aber vielleicht auch nicht.
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10:35 - 10:38Wollen Sie das wirklich dem Zufall überlassen?
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10:38 - 10:40Es ist viel besser für alle, wenn jeder für sich
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10:40 - 10:42eigene Ideen generiert,
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10:42 - 10:44frei von den Verzerrungen der Gruppendynamik,
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10:44 - 10:46und dann zu einem Team zusammenkommt,
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10:46 - 10:49die Ideen in einer gut geführten Umgebung bespricht
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10:49 - 10:51und das als Ausgangspunkt nimmt.
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10:51 - 10:53Wenn all dies wahr ist,
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10:53 - 10:56warum machen wir es dann so falsch?
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10:56 - 10:58Warum richten wir unsere Schulen und Arbeitsplätze so ein?
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10:58 - 11:00Warum lassen wir Introvertierte sich dafür schuldig fühlen,
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11:00 - 11:04wenn sie einige Zeit allein sein wollen?
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11:04 - 11:07Eine Antwort liegt tief in unserer kulturellen Geschichte.
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11:07 - 11:09Westliche Gesellschaften,
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11:09 - 11:11insbesondere die USA,
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11:11 - 11:13haben immer den Mann der Tat dem
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11:13 - 11:15Mann der Betrachtung vorgezogen,
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11:15 - 11:19"Mann" der Betrachtung.
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11:19 - 11:22Aber damals in Amerika
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11:22 - 11:25lebten wir in einer von Historikern so genannten Kultur des Charakters,
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11:25 - 11:27wo wir noch, damals, Menschen
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11:27 - 11:30für ihre inneren Werte und moralische Aufrichtigkeit wertschätzten.
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11:30 - 11:32Und wenn wir uns die Selbsthilfebücher von damals anschauen,
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11:32 - 11:34waren das alles Titel wie
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11:34 - 11:37"Charakter, das größte Gut auf der Welt".
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11:37 - 11:40Sie zeigten Vorbilder wie Abraham Lincoln, der dafür
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11:40 - 11:42gelobt wurde, anständig und bescheiden zu sein.
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11:42 - 11:44Ralph Waldo Emerson nannte ihn
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11:44 - 11:47einen "Mann, der nicht durch Überlegenheit beleidigt".
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11:47 - 11:50Aber dann erreichten wir das 20. Jahrhundert
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11:50 - 11:52und damit eine neue Kultur,
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11:52 - 11:54die Historiker die Kultur der Persönlichkeit nennen.
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11:54 - 11:56Und passiert war dies: Wir hatten eine agrikulturelle Wirtschaft
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11:56 - 11:58zu einer Welt des "Big Business" entwickelt.
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11:58 - 12:00Und so ziehen plötzlich Leute aus
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12:00 - 12:02kleinen Orten in die Städte.
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12:02 - 12:05Und anstatt mit Leuten zu arbeiten, die sie ihr ganzes Leben kennen,
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12:05 - 12:07müssen sie sich nun
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12:07 - 12:09in einer Gruppe Fremder beweisen.
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12:09 - 12:11Verständlicherweise
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12:11 - 12:13erschienen nun Qualitäten wie Ausstrahlung
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12:13 - 12:15und Anziehungskraft plötzlich sehr wichtig.
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12:15 - 12:18Und klar, mit den neuen Bedürfnissen änderten sich die Selbsthilfebücher
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12:18 - 12:20und sie hatten neue Namen
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12:20 - 12:22"Wie man Freunde gewinnt: Die Kunst, beliebt und einflussreich zu werden".
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12:22 - 12:24Und in ihnen sind die Vorbilder
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12:24 - 12:27ganz großartige Verkäufer.
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12:27 - 12:29Das ist also die Welt, in der wir heute leben.
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12:29 - 12:33Das ist unser kulturelles Erbe.
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12:33 - 12:35Das soll natürlich nicht heißen,
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12:35 - 12:38dass soziale Fähigkeiten nicht wichtig sind,
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12:38 - 12:40und ich rufe auch nicht dazu auf,
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12:40 - 12:43Teamwork jeder Art abzuschaffen.
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12:43 - 12:46Dieselben Religionen, die ihre Weisen auf einsame Bergspitzen sandten,
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12:46 - 12:49lehren uns auch Liebe und Vertrauen.
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12:49 - 12:51Und die Probleme, denen wir heute in Bereichen
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12:51 - 12:53wie Wissenschaft oder Ökonomie ausgesetzt sind,
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12:53 - 12:55sind so gewaltig und so komplex,
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12:55 - 12:57dass wir Armeen von Leuten brauchen werden,
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12:57 - 12:59die sie in Zusammenarbeit lösen.
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12:59 - 13:02Aber: Je mehr Freiheit wir den Introvertierten geben, sie selbst zu sein,
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13:02 - 13:04desto wahrscheinlicher werden sie
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13:04 - 13:07ihre eigenen, einzigartigen Lösungen für diese Probleme finden.
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13:09 - 13:11Und nun würde ich Ihnen gern zeigen,
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13:11 - 13:14was ich heute in meinem Koffer habe.
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13:18 - 13:20Raten Sie mal.
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13:20 - 13:22Bücher.
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13:22 - 13:24Ich habe einen Koffer voller Bücher.
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13:24 - 13:26Hier ist Margaret Atwoods "Katzenauge".
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13:26 - 13:29Hier ist ein Roman von Milan Kundera.
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13:29 - 13:31Und hier ist der "Führer der Unschlüssigen"
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13:31 - 13:34von Maimonides.
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13:34 - 13:37Aber das sind nicht wirklich meine Bücher.
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13:37 - 13:39Ich habe diese Bücher mitgebracht,
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13:39 - 13:43weil sie von den Lieblingsautoren meines Großvaters geschrieben wurden.
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13:43 - 13:45Mein Großvater war ein Rabbi
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13:45 - 13:47und er war ein Witwer,
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13:47 - 13:50der allein in einer kleinen Wohnung in Brooklyn lebte,
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13:50 - 13:53die mein Lieblingsort auf der ganzen Welt war, als ich aufwuchs,
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13:53 - 13:56teilweise, weil sie von seiner sehr sanften, vornehmen Art erfüllt war,
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13:56 - 13:59und teilweise, weil sie mit Büchern angefüllt war.
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13:59 - 14:02Es hatte wirklich jeder Tisch, jeder Stuhl in dieser Wohnung
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14:02 - 14:04seine ursprüngliche Funktion aufgegeben,
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14:04 - 14:07um nun als Lagerfläche für wankende Bücherstapel herzuhalten.
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14:07 - 14:09Wie der Rest meiner Familie
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14:09 - 14:12war Lesen die Lieblingsbeschäftigung meines Großvaters.
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14:12 - 14:15Aber er liebte auch seine Gemeinde,
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14:15 - 14:18und man konnte diese Liebe in seinen Predigten spüren,
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14:18 - 14:22jede Woche, all die 62 Jahre seiner Zeit als Rabbi.
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14:22 - 14:25Er verwebte die Früchte seiner allwöchentlichen Lektüre
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14:25 - 14:28zu komplexen Teppichen aus uraltem und humanistischem Denken.
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14:28 - 14:30Und die Leute kamen von überall,
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14:30 - 14:32um ihn sprechen zu hören.
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14:32 - 14:35Aber mit meinem Großvater war das so:
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14:35 - 14:37Hinter dieser zeremoniellen Rolle
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14:37 - 14:40war er sehr bescheiden und sehr introvertiert –
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14:40 - 14:43so sehr, dass er beim Predigen
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14:43 - 14:45nur schwierig Augenkontakt
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14:45 - 14:47mit der Gemeinde, zu der er seit
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14:47 - 14:4962 Jahren sprach, herstellen konnte.
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14:49 - 14:51Und selbst wenn er nicht auf dem Podium stand,
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14:51 - 14:53wenn man ihm nur kurz Hallo sagen wollte,
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14:53 - 14:55beendete er oft das Gespräch vorzeitig,
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14:55 - 14:59aus Sorge, dass er der anderen Person Zeit wegnahm.
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14:59 - 15:02Aber als er im Alter von 94 Jahren starb,
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15:02 - 15:05musste die Polizei die Straßen in seiner Nachbarschaft absperren,
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15:05 - 15:07um die Menschenmenge unterzubringen,
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15:07 - 15:10die zum Trauern gekommen waren.
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15:11 - 15:14Und so versuche ich nun aus dem Beispiel meines Großvaters
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15:14 - 15:16auf meine eigene Art zu lernen.
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15:16 - 15:19Ich habe gerade ein Buch über Introversion herausgebracht
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15:19 - 15:21und ich habe etwa sieben Jahre gebraucht, es zu schreiben.
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15:21 - 15:24Und für mich waren die sieben Jahre totale Glückseligkeit,
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15:24 - 15:27weil ich las und schrieb
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15:27 - 15:29und dachte und recherchierte.
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15:29 - 15:31Es war meine Version der Stunden, die mein
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15:31 - 15:34Großvater allein in seiner Bibliothek verbrachte.
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15:34 - 15:37Aber jetzt hat sich meine Aufgabe plötzlich sehr verändert,
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15:37 - 15:40denn meine Aufgabe ist es, hier darüber zu sprechen,
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15:40 - 15:43über Introversion zu sprechen.
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15:43 - 15:47(Lachen)
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15:47 - 15:49Das ist für mich viel schwieriger,
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15:49 - 15:51denn obwohl es mich ehrt,
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15:51 - 15:53hier bei Ihnen zu sein,
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15:53 - 15:56ist dies nicht mein natürliches Milieu.
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15:56 - 15:58Ich habe mich auf Momente wie diese
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15:58 - 16:00so gut wie möglich vorbereitet.
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16:00 - 16:02Im letzten Jahr habe ich bei jeder Möglichkeit
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16:02 - 16:04geübt, Vorträge zu halten.
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16:04 - 16:07Und ich nenne dies mein "Jahr des kühnen Sprechens".
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16:07 - 16:09(Lachen)
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16:09 - 16:11Und das hat mir wirklich viel geholfen.
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16:11 - 16:13Aber eines hilft mir noch mehr:
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16:13 - 16:16Mein Gespür, mein Glaube, meine Hoffnung daran,
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16:16 - 16:18dass wir bei unseren Einstellungen
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16:18 - 16:20zur Introversion, zur Ruhe und zum Alleinsein,
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16:20 - 16:22wahrhaftig bereit für eine dramatische Veränderung sind.
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16:22 - 16:24Das sind wir.
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16:24 - 16:26Und nun werde ich Sie mit drei Aufrufen
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16:26 - 16:28zur Handlung zurücklassen,
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16:28 - 16:30falls Sie diese Vision teilen.
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16:30 - 16:32Nummer eins:
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16:32 - 16:34Stoppen wir den Wahnsinn der konstanten Gruppenarbeit.
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16:34 - 16:36Hören wir einfach damit auf.
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16:36 - 16:39(Lachen)
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16:39 - 16:41Danke.
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16:41 - 16:43(Applaus)
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16:43 - 16:45Und ich möchte deutlich sein,
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16:45 - 16:47denn ich glaube fest, dass in unseren Büros
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16:47 - 16:49informelle, lässige Arten der Interaktion
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16:49 - 16:51wie im Café unterstützt werden sollten –
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16:51 - 16:53wissen Sie, wenn Leute sich zusammenfinden
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16:53 - 16:55und durch glücklichen Zufall Ideen austauschen.
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16:55 - 16:57Das ist großartig.
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16:57 - 16:59Großartig für Introvertierte und Extrovertierte.
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16:59 - 17:01Aber wir brauchen viel mehr Privatsphäre, Freiheit
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17:01 - 17:03und Eigenständigkeit bei der Arbeit.
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17:03 - 17:05Genau so auch in der Schule.
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17:05 - 17:08Natürlich müssen unsere Kinder Zusammenarbeit lernen,
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17:08 - 17:10aber wir müssen sie auch lehren, wie man allein arbeitet.
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17:10 - 17:13Dies ist auch für extrovertierte Kinder besonders wichtig.
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17:13 - 17:15Sie müssen allein arbeiten, denn
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17:15 - 17:17daher stammen zum Teil tiefe Gedanken.
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17:17 - 17:20Okay, Nummer zwei: Gehen Sie in die Wildnis.
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17:20 - 17:23Seien Sie wie Buddha, suchen Sie Ihre eigenen Offenbarungen.
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17:23 - 17:25Ich sage nicht,
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17:25 - 17:28dass wir nun alle unsere eigenen Hütten im Wald bauen müssen,
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17:28 - 17:31und niemals mehr miteinander sprechen,
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17:31 - 17:33aber es würde uns allen gut tun, mal abzuschalten
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17:33 - 17:35und uns ein bisschen öfter in unsere eigenen
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17:35 - 17:38Köpfe zu verziehen.
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17:39 - 17:42Nummer drei:
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17:42 - 17:44Schauen Sie sich den Inhalt Ihres eigenen Koffers gut an,
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17:44 - 17:46und wieso Sie ihn so gefüllt haben.
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17:46 - 17:48Extrovertierte, vielleicht sind
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17:48 - 17:50Ihre Koffer auch voller Bücher.
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17:50 - 17:52Oder vielleicht sind sie voller Champagnergläser
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17:52 - 17:55oder Ausrüstung zum Fallschirmspringen.
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17:55 - 17:59Was es auch ist, ich hoffe, diese Dinge kommen so oft wie es geht zum Einsatz,
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17:59 - 18:02sodass Sie uns mit Ihrer Energie und Freude beglücken können.
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18:02 - 18:05Aber, Introvertierte, naturgemäß
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18:05 - 18:07haben Sie wahrscheinlich den Impuls, den Inhalt
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18:07 - 18:09Ihres Koffers gut zu bewachen.
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18:09 - 18:11Und das ist in Ordnung.
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18:11 - 18:13Aber manchmal, nur manchmal
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18:13 - 18:16hoffe ich, dass Sie Ihren Koffer für andere Leute öffnen,
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18:16 - 18:19denn die Welt braucht Sie und die Dinge, die Sie mit sich tragen.
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18:21 - 18:23Ich wünsche Ihnen allen die bestmögliche Reise
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18:23 - 18:26und den Mut sanft zu sprechen.
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18:26 - 18:28Vielen Dank.
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18:28 - 18:32(Applaus)
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18:32 - 18:35Vielen Dank.
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18:35 - 18:42(Applaus)
- Title:
- Susan Cain: Die Macht der Introvertierten
- Speaker:
- Susan Cain
- Description:
-
In einer Kultur, in der Geselligkeit und Kontaktfreude den höchsten Stellenwert haben, kann Introvertiertheit schwer, oder sogar eine Schande sein. Doch bringen, so sagt Susan Cain, Introvertierte außergewöhnliche Talente und Fähigkeiten in unsere Welt und sollten ermutigt und gefeiert werden.
- Video Language:
- English
- Team:
closed TED
- Project:
- TEDTalks
- Duration:
- 18:43