0:00:07.011,0:00:08.801 "Von der Spitze jedes Zweiges 0:00:08.801,0:00:11.581 winkte und zwinkerte [br]wie eine dicke lila Feige 0:00:11.581,0:00:13.351 eine wunderbare Zukunft ... 0:00:13.351,0:00:16.571 Aber eine davon zu wählen,[br]hieß, den Rest zu verlieren, 0:00:16.571,0:00:19.541 und als ich dort saß, [br]unfähig, zu entscheiden, 0:00:19.541,0:00:22.951 wurden die Feigen runzelig und schwarz 0:00:22.951,0:00:27.201 und fielen eine nach der anderen[br]zu meinen Füßen auf die Erde." 0:00:27.461,0:00:30.599 In dieser Passage [br]aus Sylvia Plaths "Die Glasglocke" 0:00:30.599,0:00:33.819 stellt sich eine junge Frau [br]eine ungewisse Zukunft vor 0:00:33.819,0:00:36.359 und äußert sich zu der universellen Angst, 0:00:36.359,0:00:39.889 durch die Aussicht auf eine[br]Fehlentscheidung gelähmt zu werden. 0:00:40.799,0:00:42.799 Obwohl Plath andere Berufe erwog, 0:00:42.799,0:00:44.989 wählte sie die Schriftstellerlaufbahn. 0:00:44.989,0:00:46.749 Poesie war ihre Berufung. 0:00:46.749,0:00:48.779 Unter ihrem scharfen Blick und Stift 0:00:48.779,0:00:51.369 wurden Alltagsobjekte[br]zu eindringlichen Bildern: 0:00:51.369,0:00:53.849 eine "neue Statue im windigen Museum", 0:00:53.849,0:00:56.699 ein Schatten im Spiegel, ein Stück Seife. 0:00:56.699,0:00:59.749 Plath war hochintelligent,[br]scharfsinnig und geistreich, 0:00:59.749,0:01:02.659 doch wurden bei ihr[br]Depressionen diagnostiziert. 0:01:02.659,0:01:04.179 Sie benutzte die Poesie, 0:01:04.179,0:01:07.839 um ihre Seelenzustände[br]auf sehr persönliche Art zu erkunden. 0:01:07.839,0:01:11.819 Ihre atemberaubenden Sichtweisen[br]auf Gefühle, Natur und Kunst 0:01:11.819,0:01:14.379 üben bis heute fesselnde Strahlkraft aus. 0:01:14.969,0:01:17.834 In "Der Koloss", ihrer[br]ersten Gedichtsammlung, 0:01:17.834,0:01:20.324 schrieb sie von einem Gefühl des Nichts: 0:01:20.324,0:01:23.244 "Weiß: Es ist ein Kolorit des Geistes." 0:01:23.484,0:01:26.064 Gleichzeitig fand sie Trost in der Natur: 0:01:26.064,0:01:28.334 von "blauem Nebel, der am See zerrt," 0:01:28.334,0:01:30.974 über weiße Blüten,[br]die "aufragen und stürzen", 0:01:30.974,0:01:33.874 hin zu blauen Muscheln,[br]die "klumpten wie Knollen". 0:01:33.874,0:01:37.594 Nach "Der Koloss" erschien[br]ihr einziger Roman, "Die Glasglocke". 0:01:37.594,0:01:39.194 Er beschreibt ihre Zeit 0:01:39.194,0:01:42.114 bei der New Yorker[br]Modezeitschrift "Mademoiselle" 0:01:42.114,0:01:43.574 während ihres Studiums. 0:01:43.574,0:01:46.184 Der Roman folgt seiner Heldin Esther, 0:01:46.184,0:01:49.044 als sie in eine schwere[br]depressive Phase gerät. 0:01:49.044,0:01:52.094 Er schildert aber auch[br]boshaft und geistreich 0:01:52.094,0:01:55.874 versnobte Modepartys[br]und Rendezvous mit farblosen Männern. 0:01:56.154,0:01:59.104 Kurz nach der Veröffentlichung[br]von "Die Glasglocke" 0:01:59.104,0:02:02.294 nahm sich Plath mit 30 Jahren das Leben. 0:02:02.304,0:02:05.058 Zwei Jahre später [br]erschien die Gedichtsammlung, 0:02:05.058,0:02:08.978 die sie kurz vor ihrem Tod[br]in einem Schaffensrausch schrieb, 0:02:08.978,0:02:11.848 unter dem Titel "Ariel". 0:02:12.068,0:02:14.228 Sie gilt als ihr Meisterwerk 0:02:14.228,0:02:17.188 und veranschaulicht [br]die Ehrlichkeit und Fantasie, 0:02:17.188,0:02:19.748 mit der Plath ihren Schmerz artikulierte. 0:02:19.998,0:02:23.758 In einem der kraftvollsten Gedichte[br]der Sammlung, "Lady Lazarus", 0:02:23.758,0:02:27.608 erforscht sie ihre Versuche, [br]sich durch Lazarus das Leben zu nehmen, 0:02:27.608,0:02:30.461 die biblische Gestalt, [br]die von den Toten auferstand. 0:02:30.461,0:02:31.481 Sie schreibt: 0:02:31.481,0:02:34.861 "Und ich, eine lächelnde Frau,[br]bin erst dreißig, 0:02:34.861,0:02:38.325 und hab', wie die Katze,[br]neun Leben zu sterben." 0:02:38.325,0:02:41.135 Aber das Gedicht ist auch[br]ein Beleg fürs Überleben: 0:02:41.135,0:02:45.115 "Ich steige auf mit roten Haar[br]und esse Männer ganz und gar." 0:02:45.115,0:02:46.985 Diese kompromisslose Sprache 0:02:46.985,0:02:51.305 macht Plath zu einem wichtigen Maßstab[br]für zahllose Leser und Autoren, 0:02:51.305,0:02:55.255 die zu Themen wie Traumata,[br]Frustrationen und Sexualität 0:02:55.255,0:02:57.345 nicht länger schweigen wollten. 0:02:57.345,0:03:01.945 "Ariel" ist auch voll anrührender Gedanken[br]zu Liebe, Leid und Kreativität. 0:03:01.962,0:03:05.932 Das Titelgedicht beginnt so:[br]"Stillstand in der Dunkelheit. 0:03:05.932,0:03:10.382 Dann körperlos blauer Schauer[br]von Fels und Entfernungen." 0:03:10.762,0:03:14.562 Das ist die Kulisse für einen[br]frühmorgendlichen nackten Ausritt, 0:03:14.562,0:03:19.222 eine von Plaths denkwürdigsten Bekundungen[br]der Euphorie durch kreative Freiheit. 0:03:19.232,0:03:22.302 Aber das Gedicht birgt auch [br]unheilverkündende Bilder 0:03:22.302,0:03:25.582 wie "Der Kinderschrei[br]verschwimmt in der Wand" 0:03:25.582,0:03:28.552 und das "rote Auge,[br]Hexenkessel des Morgens". 0:03:28.552,0:03:31.482 Dieses Dunkel zieht sich[br]durch die gesamte Sammlung, 0:03:31.482,0:03:35.672 die brisante Verweise auf den Holocaust [br]und die Kamikaze enthält. 0:03:35.892,0:03:38.290 Selbst Relikte aus[br]scheinbar besseren Zeiten 0:03:38.290,0:03:40.680 erweisen sich als Kreuzigung der Autorin: 0:03:40.680,0:03:44.394 "Mein Mann, mein Kind,[br]vom Familienfoto herüberlächelnd, 0:03:44.394,0:03:49.214 ihr Lächeln verfängt sich in meiner Haut[br]wie lächelnde kleine Haken." 0:03:49.214,0:03:53.201 Dauerthemen ihrer späteren Gedichte[br]sind ihre häusliche Unzufriedenheit 0:03:53.201,0:03:55.981 und die schlechte Behandlung[br]durch ihren Mann. 0:03:55.981,0:03:59.641 Nach ihrem Tod erbte er ihren Besitz[br]und wurde beschuldigt, 0:03:59.641,0:04:02.841 einen Teil ihrer Werke[br]nicht veröffentlicht zu haben. 0:04:03.263,0:04:06.943 Trotz dieser möglichen Unterschlagungen[br]und Plaths frühen Todes 0:04:06.943,0:04:08.503 zählt das erhaltene Werk 0:04:08.503,0:04:12.093 zum Außergewöhnlichsten[br]der Dichtung des 20. Jahrhunderts. 0:04:12.093,0:04:15.623 Plaths Werk schockiert[br]durch seinen Zorn und seine Traumata. 0:04:15.623,0:04:18.053 Dabei beruft sie ihre Leser als Zeugen -- 0:04:18.053,0:04:21.063 nicht nur der Wahrheit ihres Seelenlebens, 0:04:21.063,0:04:23.653 sondern ihrer erstaunlichen Fähigkeit, 0:04:23.653,0:04:26.843 das oft Unaussprechliche auszusprechen.