[Dieser TEDTalk enthält Abbildungen] Ich sitze Pedro gegenüber, dem Koyoten, dem Menschenschmuggler, in seiner Plattenbau-Wohnung in einer staubigen Gegend in Reynosa, irgendwo an der US-Grenze zu Mexiko. Es ist drei Uhr früh. Zuvor hatte er mich gebeten, zu seiner Wohnung zu kommen. Wir sprachen von Mann zu Mann. Er wollte mich in der Nacht allein sprechen. Ich wusste nicht, ob das eine Falle war, aber ich wollte seine Geschichte erzählen. Er fragte mich: "Was wirdt du tun, wenn ein Migrant ins Wasser fällt und nicht schwimmen kann? Wirst du nur Fotos machen und ihm beim Ertrinken zusehen? Oder wirst du hinterherspringen und mir helfen?" In dem Moment war Pedro kein Menschenschmuggler wie aus dem Fernsehen. Er war bloß ein junger Mann, etwa mein Alter, der mir ziemlich schwere Fragen stellte. Es ging um Leben und Tod. Am Abend darauf fotografierte ich Pedro, wie er den Rio Grande durchschwamm, und einige junge Migranten in die USA führte. Jedes Mal waren Existenzen in Gefahr, wenn er Menschen in die Staaten verhalf. Über die letzten 20 Jahre habe ich eine der größten transnationalen Migrationswellen der Weltgeschichte dokumentiert, die zu Millionen unregistrierter Menschen führte, die in den USA leben. Ein Großteil dieser Menschen verlässt Zentralamerika und Mexiko, um großer Armut und extremer sozialer Gewalt zu entfliehen. Ich halte persönliche Momente von Menschen im Alltag fest, von Menschen, die im Verborgenen leben. Manchmal habe ich unverwüstliche Leute in äußerst gefährlichen Situationen dabei beobachtet, wie sie praktische Wege fanden, ihr Leben zu verbessern. Mit diesen Fotos nehme ich Sie genau zu diesen Momenten mit und bitte Sie, an sie zu denken als ob Sie sie kennen. Diese Arbeit ist ein bedeutendes Dokument, eine Zeitkapsel, die uns sowohl etwas über Migration, als auch über Gesellschaft und über uns selbst lehrt. Angefangen habe ich mit dem Projekt im Jahr 2000. Der Zug der Flüchtlinge zeigte mir, wie wir unsere verwundbarsten Einwohner in den USA behandeln. Es hat mich etwas über Gewalt und Schmerz, Hoffnung und Robustheit, Kampf und Opfer gelehrt. Aus erster Hand weiß ich nun, dass sich Rhetorik und Politik direkt auf reale Menschen auswirken. Und vor allem hat mir der Flüchtlingszug gezeigt, dass sich jeder, der sich ihm anschließt, für immer verändert. Ich startete das Projekt im Jahr 2000, indem ich einige Tagelöhner im Nordwesten Chicagos beobachtete. Jeden Tag standen sie um fünf Uhr morgens auf, stellten sich vor eine McDonald`s Filiale und warteten dort auf Lieferwagen von Fremden, in der Hoffnung, eine Arbeit für den Tag zu finden. Sie verdienten fünf Dollar pro Stunde, ohne Arbeitssicherheit, ohne Krankenversicherung und fast niemand besaß Dokumente. Die Männer waren allesamt ziemlich robust. Das mussten sie sein. Die Polizei belästigte sie ständig wegen Herumlungerns, da sie jeden Tag an ihnen vorbeikam. Langsam nahmen sie mich in ihre Gemeinschaft auf. Und das war eins der ersten Male, dass ich meine Kamera bewusst als Waffe einsetzte. Eines Tages, die Männer organisierten ein Arbeitszentrum für Tagelöhner, sprach mich ein junger Mann namens Tomás an und bat mich, ihn später noch zu fotografieren. Also blieb ich noch. Als er sich auf ein dreckiges Grundstück stellte, fing ein leichter Sommerregen an. Zu meiner Überraschung begann er, sich auszuziehen. (lacht) Ich wusste nicht recht, was ich machen sollte. Er deutete zum Himmel und sagte: "Unser Körper ist alles, was wir haben." Er war gleichzeitig stolz, trotzig und verwundbar. Dieses Foto ist eins meiner Lieblingsfotos der letzten 20 Jahre. Seine Worte blieben mir seither in meinem Gedächtnis. Ich traf Lupe Guzmán etwa zur selben Zeit, während sie Tagesarbeitsagenturen organisierte und bekämpfte, die sie und andere Arbeiter ausbeuteten. Sie organisierte kleine Proteste, Sitzstreiks und einiges mehr. Sie zahlte einen hohen Preis für ihren Aktivismus, denn Tagesarbeitsagenturen wie Rons mieden sie und weigerten sich, ihr Arbeit zu geben. Um zu überleben verkaufte sie Elotes und Maiskolben auf der Straße, als Straßenhändlerin. Und heute findet man sie immer noch, wie sie alle möglichen Maissorten und Süßes und so verkauft. Lupe stellte mir die Welt ihrer Familie vor und zeigte mir die wahren Auswirkungen von Migration. Sie machte mich mit jedem ihrer Verwandtschaft bekannt, Gabi, Juan, Conchi, Chava, mit jedem. Seine Schwester Remidios war mit Anselmo verheiratet, dessen acht von neun Geschwistern in den 90ern von Mexiko nach Chicago emigrierten. So viele in seiner Familie öffneten mir die Tür zu ihrer Welt und teilten ihre Geschichten mit mir. Familien sind das Herzstück des Flüchtlingszuges. Wenn diese Familien emigrieren, verändern und gestalten sie Gesellschaft. Man bekommt selten einen so persönlichen Einblick ins private und alltägliche Leben von Menschen, die Außenstehenden zwangläufig verborgen sind. Damals lebte Lupas Familie in einer isolierten Hinterhof-Welt, einer engen Gegend in Chicago, die seit über 100 Jahren eine Pforte für neue Immigranten war; erst aus Europa, wie meine Familie, und seit kürzerem aus Lateinamerika. Ihre Welt war größtenteils für andere verborgen. Und sie nennen die große Welt der Weißen außerhalb "Gringoland". Nun, wie viele der Generation, die in den Hinterhöfen landen, verrichtete die Familie undankbare Jobs, die kaum jemand machen will: Gebäude putzen, Essen für Fluggäste in kalten Fabriken anrichten, Fleisch verpacken, Abbrissarbeiten. Es war schwere körperliche Arbeit für geringsten Lohn. Aber am Wochenende wurde gemeinsam gefeiert, mit Hinterhof-Barbeques und Geburtstagspartys, wie die meisten Arbeiterfamilien weltweit. Ich wurde ein ehrenamtliches Familienmitglied. Mein Kosename war "Johnny Canales", nach dem Tejano-Fernsehstar. Ich hatte Zugang zur Landeskultur, also war ich teils Familienfotograf, teils Sozialarbeiter und teils ein fremder Clown von außerhalb, der sie amüsieren sollte. Einer der unvergesslichsten Momente aus dieser Zeit war, die Geburt von Lupes Enkelin, Elizabeth, zu fotografieren. Ihre zwei älteren Geschwister hatten die Sonora-Wüste durchquert, getragen und im Kinderwagen geschoben in Richtung USA. Damals also hatte mir ihre Familie erlaubt, ihre Geburt zu fotografieren. Und es war eins der schönsten Dinge, als die Hebamme die kleine Elizabeth an Gabis Brust legte. Sie war die erste US-Bürgerin der Familie. Dieses Mädchen ist heute 17 Jahre alt. Und ich pflege noch immer engen Kontakt zu Lupe und zu vielen ihrer Familie. Meine Arbeit beruht sicherlich auf meiner eigenen Familiengeschichte, mit Exil und danach Wiedergeburt in den USA. Mein Vater wurde 1934 in Nazi-Deutschland geboren. Wie die meisten assimilierten Juden hofften meine Großeltern einfach nur darauf, die Unruhen im Dritten Reich würden vorübergehen. Aber im Frühjahr 1939 stieß meiner Familie ein kleines, aber wichtiges Ereignis zu. Mein Vater brauchte eine Blinddarm-OP. Aber da er Jude war, wollte kein Krankenhaus ihn operieren. Er wurde auf dem Küchentisch operiert, auf dem Küchentisch der Familie. Sobald ihnen die Diskriminierung ihnen gegenüber klar wurde, fällten meine Großeltern die ergreifende Entscheidung, ihre zwei Kinder in einem Kindertransport nach England zu schicken. Das Überleben meiner Familie hat mein tiefes Engagement geweckt, diese Geschichte über Migration tiefgehend und ausführlich zu erzählen. Damals und Heute sind immer verbunden. Das langjährige Vermächtnis der Verstrickung der US-Regierung in Lateinamerika ist umstritten und gut dokumentiert. 1954 der von der CIA unterstützte Putsch gegen Árbenz in Guatemala, die Iran-Contra-Affäre, die School of the Americas, der Mord an Erzbischof Romero auf den Stufen einer Kirche in San Salvador, all das sind Beispiele einer komplexen Geschichte, einer Geschichte, die zu Instabilität und Straffreiheit in Zentralamerika geführt hat. Zum Glück ist die Geschichte nicht durchgehend düster. Die USA und Mexiko haben Tausende, sogar Millionen Flüchtlinge während des Bürgerkriegs in den 70ern und 80ern aufgenommen. Als ich damals den Flüchtlingszug in Guatemala dokumentierte, in den späten 2000ern, hatten die meisten Amerikaner keinen Bezug zur zunehmenden Gewalt, Straflosigkeit und Migration in Zentralamerika. Für die meisten US-Bürger war dies so weit entfernt wie der Mond. Im Laufe der Jahre habe ich das schwierige Puzzle zusammengesetzt, das sich von Mittelamerika über Mexiko bis in meinen Hinterhof in Chicago erstreckte. Ich kam in fast jede Grenzstadt: Brownsville, Reynosa, McAllen, Yuma, Calexico, während ich die zunehmende Militarisierung der Grenze aufzeichnete. Immer, wenn ich wiederkam, sah ich mehr Infrastruktur, mehr Sensoren, mehr Zäune, mehr Grenzpatrouillen und mehr High-Tech-Anlagen, mit denen die Männer, Frauen und Kinder inhaftiert werden sollten, die unsere Regierung festgenommen hatte. Nach dem 9. November wurden diese Anlagen zu einer riesigen Industrie. Ich fotografierte starke und historische Einwanderungen in Chicago, Kinder in Hafteinrichtungen und den langsamen, durchsickernden Anstieg von immigrantenfeindlichen Hassgruppen, zu denen auch Sheriff Joe Arpaio in Arizona gehörte. Ich dokumentierte die Kinder in Haftanstalten, Abschiebungen und viele andere Dinge. Ich habe den Drogenkrieg in Mexiko miterlebt und die zunehmende soziale Gewalt in Zentralamerika. Mir wurde klar, wie verwoben all die Einzelelemente waren und wie verbunden wir alle sind. Als Fotograf weiß man nie, welcher Moment einen später noch beschäftigt oder wer einem im Gedächtnis bleibt. Die Menschen, die wir fotografieren, werden Teil der gemeinsamen Geschichte. Jerica Estrada war ein acht Jahre altes Mädchen, dessen Geschichte mir im Gedächtnis blieb. Ihr Vater war nach LA gegangen, um für seine Familie zu arbeiten. Und wie jeder liebende Vater kam er mit Geschenken nach Guatemala zurück. An dem Wochenende schenkte er seinem ältesten Sohn ein Motorrad, wahrer Luxus. Als sein Sohn ihn einmal heimfuhr, nach einer Familienfeier, tauchte ein Gangmitglied auf und schoss dem Vater in den Rücken. Es handelte sich um eine Verwechslung, was in dem Land nur allzu häufig vorkommt. Aber der Schaden war angerichtet. Die Kugel ging durch den Vater durch und traf den Sohn. Diese Gewalttat war kein Zufall, sondern ein Beispiel sozialer Gewalt in einer Region, in der so etwas normal ist. Straffreiheit gedeiht, wenn die Staats- und Regierungsinstitutionen beim Schutz des Einzelnen versagen. Oft zwingen die Auswüchse Menschen dazu, ihr Heim zu verlassen und zu fliehen und auf der Suche nach Sicherheit viel zu riskieren. Jericas Vater starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Sein Körper rettete das Leben seines Sohns. Als wir an dem staatlichen Krankenhaus ankamen, am Eingang des Krankenhauses, bemerkte ich ein junges Mädchen in pinkgestreiftem Shirt, schreiend. Niemand beruhigte das Kind, das seine winzigen Hände umklammerte. Sie war seine jüngste Tochter, ihr Name war Jerica Estrada. Sie schrie und tobte, und niemand konnte helfen, denn ihr Vater war tot. Heute, wenn mich Leute fragen, warum junge Mütter mit ihren vier Monate alten Babies Tausende von Meilen zurücklegen, wissend, dass sie wahrscheinlich in den USA verhaftet werden, denke ich an Jerica und an ihren Schmerz Und an ihren Vater, der mit seinem Körper seinen Sohn gerettet hat, und verstehe das absolut menschliche Bedürfnis, zu fliehen und ein besseres Leben zu suchen. Vielen Dank. (Applaus)