1901 veröffentlichte David Hänig eine Arbeit, die unser Verständnis von Geschmack für immer veränderte. Seine Forschung lieferte uns die heute bekannte Geschmackskarte: eine Darstellung, die die Zunge in vier Bereiche aufteilt. Laut dieser Karte erkennen Rezeptoren an der Zungenspitze Süßes, am Zungenhintergrund Bitteres und an den Seiten Salziges und Saures. Seit ihrer Erfindung erscheint die Geschmackskarte in Schulbüchern und Zeitungen. Das einzige Problem: Die Karte ist falsch. Tatsächlich zeigt sie nicht einmal genau, was Hänig ursprünglich entdeckte. Die Geschmackskarte ist ein verbreiteter Irrtum; etwas, das häufig geglaubt wird, aber überwiegend falsch ist. Wie also entstehen solche Irrtümer? Warum werden Falschinformationen so leicht geglaubt? Die Reise der Geschmackskarte beginnt tatsächlich mit David Hänig. Für seine Dissertation an der Universität Leipzig analysierte er Empfindungen der Zunge für die vier Geschmäcker. Dabei nutzte er Zucker für Süß, Chininsulfat für Bitter, Salzsäure für Sauer und Salz für Salzig. Mit diesen Stimuli verglich Hänig Unterschiede in Geschmacksübergängen auf der Zunge von Testpersonen. Er wollte die physiologischen Mechanismen der vier Geschmäcker besser verstehen. Seine Daten zeigten, dass das Empfinden für jeden Geschmack tatsächlich auf der Zunge variiert. Das maximale Empfinden für Süßes lag an der Zungenspitze, bittere Aromen waren hinten am stärksten, Salziges am intensivsten in diesem Bereich und Saures in der Mitte der Zungenseiten. Hänig merkte jedoch an, dass jeder Geschmack auch auf der ganzen Zunge festgestellt werden konnte und dass die von ihm ermittelten Bereiche sich in der Intensität kaum unterschieden. Wie so viele Irrtümer ist die Zungenkarte eine Verzerrung ihrer ursprünglichen Quelle. Dabei kann die Art der Verzerrung variieren. Einige Irrtümer bestehen aus Desinformationen, also falschen Informationen, um Menschen in die Irre zu führen. Doch viele Irrtümer wie die Zungenkarte beruhen auf Fehlinformationen, falschen oder irreführenden Informationen, dem Ergebnis unabsichtlicher Ungenauigkeiten. Falschinformationen entstehen meist durch Fehler oder menschliches Versagen, aber die konkreten Fehler, die zum Irrtum führen, können überraschend vielfältig sein. Im Fall der Zungenkarte lag Hänigs Dissertation auf Deutsch vor. Die Arbeit wurde also nur von Personen verstanden, die fließend Deutsch sprachen und Hänigs Spezialgebiet gut kannten. Dadurch begann ein "Stille-Post"-Spiel, das Hänigs Forschungen durch jede weitere Verbreitung veränderte. Knapp zehn Jahre nach seiner Dissertation schrieben Zeitungen fälschlicherweise, laut Experimenten werde Süßes am Zungengrund nicht wahrgenommen. Der zweite Übeltäter bei der Verbreitung der Karte waren die Bilder, die wegen Hänigs Arbeit entstanden. 1912 erschien eine grobe Karte in einem Zeitungsbericht, der vorsichtig einige Geheimnisse aus der Geschmacks- und Geruchsforschung beschrieb. Darstellungen mit klaren Ortszuweisungen auf der Zunge vereinfachten Hänigs komplexere Originaldiagramme. Varianten dieses verständlichen Bildes wurden wiederholt angeführt, oft ohne Quelle oder differenzierte Betrachtung von Hänigs Arbeit. Schließlich verbreitete sich dieses Bild in Schulbüchern und Unterricht als angebliche Wahrheit, wie wir Geschmack erleben. Aber was vermutlich am meisten zu diesem Irrtum beitrug, war die einfache Darstellung. Diese Karte entspricht großteils unserem Bedürfnis nach anschaulichen Erklärungen unserer Umwelt, die uns die oft unübersichtliche Welt der Wissenschaft nicht immer bietet. So ist etwa die Anzahl der Geschmäcker noch komplexer als in Hänigs Arbeit. Umami, auch als "würzig" bekannt, gilt heute als 5. Grundgeschmack. Viele streiten noch darüber, ob es Geschmäcker wie fettig, alkalisch, metallisch und wässrig gibt. Bei einer guten Geschichte ist es oft schwierig, sogar trotz neuer Erkenntnisse die Sicht auf Informationen zu ändern. Wenn du also wieder eine griffige Grafik oder eine überraschende Geschichte siehst, begegne ihnen mit gesunder Skepsis, denn Irrtümer können in allen Bereichen der Zunge einen bitteren Geschmack hinterlassen.