1 00:00:06,912 --> 00:00:09,912 1901 veröffentlichte David Hänig eine Arbeit, 2 00:00:09,912 --> 00:00:13,744 die unser Verständnis von Geschmack für immer veränderte. 3 00:00:13,930 --> 00:00:17,727 Seine Forschung lieferte uns die heute bekannte Geschmackskarte: 4 00:00:17,727 --> 00:00:21,836 eine Darstellung, die die Zunge in vier Bereiche aufteilt. 5 00:00:22,278 --> 00:00:26,728 Laut dieser Karte erkennen Rezeptoren an der Zungenspitze Süßes, 6 00:00:27,028 --> 00:00:29,460 am Zungenhintergrund Bitteres 7 00:00:29,700 --> 00:00:34,545 und an den Seiten Salziges und Saures. 8 00:00:34,985 --> 00:00:38,038 Seit ihrer Erfindung erscheint die Geschmackskarte 9 00:00:38,038 --> 00:00:40,150 in Schulbüchern und Zeitungen. 10 00:00:40,150 --> 00:00:43,286 Das einzige Problem: Die Karte ist falsch. 11 00:00:43,660 --> 00:00:46,930 Tatsächlich zeigt sie nicht einmal genau, 12 00:00:46,930 --> 00:00:49,423 was Hänig ursprünglich entdeckte. 13 00:00:49,890 --> 00:00:52,580 Die Geschmackskarte ist ein verbreiteter Irrtum; 14 00:00:52,580 --> 00:00:56,268 etwas, das häufig geglaubt wird, aber überwiegend falsch ist. 15 00:00:56,268 --> 00:00:59,028 Wie also entstehen solche Irrtümer? 16 00:00:59,028 --> 00:01:02,545 Warum werden Falschinformationen so leicht geglaubt? 17 00:01:03,368 --> 00:01:07,269 Die Reise der Geschmackskarte beginnt tatsächlich mit David Hänig. 18 00:01:07,269 --> 00:01:10,318 Für seine Dissertation an der Universität Leipzig 19 00:01:10,318 --> 00:01:15,876 analysierte er Empfindungen der Zunge für die vier Geschmäcker. 20 00:01:16,271 --> 00:01:20,081 Dabei nutzte er Zucker für Süß, Chininsulfat für Bitter, 21 00:01:20,081 --> 00:01:23,539 Salzsäure für Sauer und Salz für Salzig. 22 00:01:23,928 --> 00:01:26,456 Mit diesen Stimuli verglich Hänig 23 00:01:26,456 --> 00:01:30,795 Unterschiede in Geschmacksübergängen auf der Zunge von Testpersonen. 24 00:01:31,091 --> 00:01:36,249 Er wollte die physiologischen Mechanismen der vier Geschmäcker besser verstehen. 25 00:01:36,361 --> 00:01:38,210 Seine Daten zeigten, 26 00:01:38,210 --> 00:01:42,758 dass das Empfinden für jeden Geschmack tatsächlich auf der Zunge variiert. 27 00:01:42,758 --> 00:01:46,869 Das maximale Empfinden für Süßes lag an der Zungenspitze, 28 00:01:46,869 --> 00:01:51,954 bittere Aromen waren hinten am stärksten, Salziges am intensivsten in diesem Bereich 29 00:01:51,954 --> 00:01:54,854 und Saures in der Mitte der Zungenseiten. 30 00:01:54,854 --> 00:01:56,675 Hänig merkte jedoch an, 31 00:01:56,675 --> 00:02:00,838 dass jeder Geschmack auch auf der ganzen Zunge festgestellt werden konnte 32 00:02:00,838 --> 00:02:06,122 und dass die von ihm ermittelten Bereiche sich in der Intensität kaum unterschieden. 33 00:02:06,591 --> 00:02:08,741 Wie so viele Irrtümer 34 00:02:08,741 --> 00:02:12,421 ist die Zungenkarte eine Verzerrung ihrer ursprünglichen Quelle. 35 00:02:12,598 --> 00:02:15,544 Dabei kann die Art der Verzerrung variieren. 36 00:02:15,698 --> 00:02:19,070 Einige Irrtümer bestehen aus Desinformationen, 37 00:02:19,218 --> 00:02:23,248 also falschen Informationen, um Menschen in die Irre zu führen. 38 00:02:23,248 --> 00:02:26,169 Doch viele Irrtümer wie die Zungenkarte 39 00:02:26,169 --> 00:02:30,477 beruhen auf Fehlinformationen, falschen oder irreführenden Informationen, 40 00:02:30,477 --> 00:02:33,961 dem Ergebnis unabsichtlicher Ungenauigkeiten. 41 00:02:34,758 --> 00:02:39,107 Falschinformationen entstehen meist durch Fehler oder menschliches Versagen, 42 00:02:39,107 --> 00:02:42,110 aber die konkreten Fehler, die zum Irrtum führen, 43 00:02:42,110 --> 00:02:44,298 können überraschend vielfältig sein. 44 00:02:44,628 --> 00:02:46,268 Im Fall der Zungenkarte 45 00:02:46,268 --> 00:02:49,124 lag Hänigs Dissertation auf Deutsch vor. 46 00:02:49,328 --> 00:02:52,509 Die Arbeit wurde also nur von Personen verstanden, 47 00:02:52,509 --> 00:02:56,877 die fließend Deutsch sprachen und Hänigs Spezialgebiet gut kannten. 48 00:02:57,426 --> 00:02:59,906 Dadurch begann ein "Stille-Post"-Spiel, 49 00:02:59,906 --> 00:03:04,418 das Hänigs Forschungen durch jede weitere Verbreitung veränderte. 50 00:03:04,988 --> 00:03:07,636 Knapp zehn Jahre nach seiner Dissertation 51 00:03:07,636 --> 00:03:10,378 schrieben Zeitungen fälschlicherweise, 52 00:03:10,378 --> 00:03:14,876 laut Experimenten werde Süßes am Zungengrund nicht wahrgenommen. 53 00:03:15,695 --> 00:03:19,505 Der zweite Übeltäter bei der Verbreitung der Karte waren die Bilder, 54 00:03:19,505 --> 00:03:21,626 die wegen Hänigs Arbeit entstanden. 55 00:03:21,626 --> 00:03:26,330 1912 erschien eine grobe Karte in einem Zeitungsbericht, 56 00:03:26,543 --> 00:03:28,963 der vorsichtig einige Geheimnisse 57 00:03:28,963 --> 00:03:32,136 aus der Geschmacks- und Geruchsforschung beschrieb. 58 00:03:32,136 --> 00:03:35,586 Darstellungen mit klaren Ortszuweisungen auf der Zunge 59 00:03:35,586 --> 00:03:40,226 vereinfachten Hänigs komplexere Originaldiagramme. 60 00:03:40,226 --> 00:03:44,945 Varianten dieses verständlichen Bildes wurden wiederholt angeführt, 61 00:03:44,945 --> 00:03:49,167 oft ohne Quelle oder differenzierte Betrachtung von Hänigs Arbeit. 62 00:03:49,461 --> 00:03:53,751 Schließlich verbreitete sich dieses Bild in Schulbüchern und Unterricht 63 00:03:53,751 --> 00:03:56,957 als angebliche Wahrheit, wie wir Geschmack erleben. 64 00:03:57,516 --> 00:04:01,336 Aber was vermutlich am meisten zu diesem Irrtum beitrug, 65 00:04:01,336 --> 00:04:03,976 war die einfache Darstellung. 66 00:04:03,976 --> 00:04:07,043 Diese Karte entspricht großteils unserem Bedürfnis 67 00:04:07,043 --> 00:04:10,148 nach anschaulichen Erklärungen unserer Umwelt, 68 00:04:10,148 --> 00:04:14,787 die uns die oft unübersichtliche Welt der Wissenschaft nicht immer bietet. 69 00:04:14,998 --> 00:04:20,629 So ist etwa die Anzahl der Geschmäcker noch komplexer als in Hänigs Arbeit. 70 00:04:21,044 --> 00:04:26,463 Umami, auch als "würzig" bekannt, gilt heute als 5. Grundgeschmack. 71 00:04:26,693 --> 00:04:29,128 Viele streiten noch darüber, 72 00:04:29,128 --> 00:04:33,938 ob es Geschmäcker wie fettig, alkalisch, metallisch und wässrig gibt. 73 00:04:34,498 --> 00:04:37,298 Bei einer guten Geschichte ist es oft schwierig, 74 00:04:37,298 --> 00:04:41,872 sogar trotz neuer Erkenntnisse die Sicht auf Informationen zu ändern. 75 00:04:42,315 --> 00:04:47,255 Wenn du also wieder eine griffige Grafik oder eine überraschende Geschichte siehst, 76 00:04:47,255 --> 00:04:49,911 begegne ihnen mit gesunder Skepsis, 77 00:04:49,911 --> 00:04:53,057 denn Irrtümer können in allen Bereichen der Zunge 78 00:04:53,057 --> 00:04:55,447 einen bitteren Geschmack hinterlassen.