Sehen wir uns die Krallen an.
Man findet sie bei Vierbeinern weltweit;
sie sind eins der vielseitigsten
Werkzeuge der Natur.
Bären nutzen sie zum Graben
und zur Verteidigung.
Die nadelartigen Krallen des Adlers
können den Schädel der Beute durchbohren.
Beim Laufen können Löwen
ihre mächtigen Krallen einziehen
und zur Jagd wieder ausfahren.
Sogar die Vorfahren der Primaten
besaßen solch eindrucksvolle Fortsätze,
bis ihre Krallen zu Nägeln wurden.
Was also bewegte die Evolution
zu einer so gepflegten Anpassung
und was haben Nägel
ihren spitzeren Cousins voraus?
Als Nägel vor 55,8 Millionen Jahren
zum ersten Mal auftauchten,
gab es Krallen schon
seit über 260 Millionen Jahren
bei Vorfahren der Säuger und Reptilien.
Trotz der enormen Zeitspanne
zwischen ihrer Entstehung
gehören Klauen und Nägel
zur gleichen Evolutionsgeschichte.
Beide bestehen aus Keratin,
einem harten, faserigen Protein,
das sich auch in Hörnern, Schuppen,
Hufen und Haaren findet.
Es wird von einem Gewebekeil,
der Keratin-Matrix, hergestellt.
Reich an Blutgefäßen und Nährstoffen,
produziert diese Proteinfabrik
eine endlose Menge Keratin,
das fest in Keratinozyt-Zellen
eingelagert wird.
Die extrem dichten Zellen geben Nägeln
und Klauen die charakteristische Härte.
Da Nägel von Krallen abstammen,
ist die Keratinozyten-Produktion
bei beiden gleich.
Die Zellen wachsen aus der Matrix,
treten aus der Haut aus,
sterben ab und verhärten sich
zu einer wasserfesten Schicht.
Der Hauptunterschied
zwischen beiden Keratinschichten
ist tatsächlich nur die Form.
Sie hängt von der Form der Knochen
an Finger- oder Zehenende ab.
Bei Klauen passt sich das Keratinozytbett
an einen schmalen Fingerknochen an,
zieht sich um das Fingerende,
geht strahlenförmig nach außen
und bildet eine kegelförmige Struktur.
Doch Tiere mit Nägeln
haben viel breitere Finger und Zehen,
und die Keratinozyten bedecken nur
die Oberfläche ihrer breiten Knochen.
Vielleicht erhielten sich Nägel
bei Primaten nur als Nebeneffekt
bei der Entwicklung
breiterer, geschickterer Finger.
Nach allem, was wir vom Lebensraum
unserer Vorfahren wissen,
hatten Nägel wahrscheinlich
ihre eigenen starken Vorzüge.
Hoch in den Baumkronen,
wo die Primaten lebten,
waren breite Fingerknochen
und vergrößerte Fingerbeeren ideal,
um schmale Äste zu greifen.
Nägel verbessern diesen Griff weiter.
Dank der festen, belastbaren Oberfläche
konnten Primaten ihre Fingerbeeren
für mehr Haftung am Baum verbreitern.
Zusätzlich verbesserten Nägel
die Sensibilität der Fingerenden
durch mehr Fläche,
damit beim Klettern
Druckveränderungen erkannt werden.
Diese Kombination
aus Feingefühl und Geschick
gab unseren Vorfahren die Feinmotorik
zum Fangen von Insekten,
zum Sammeln von Beeren und Samen
sowie für festen Halt an dünnen Ästen.
Die Entwicklung von Nägeln sowie
von opponierbaren Daumen und Zehen
ist eng miteinander verbunden.
Als unsere Vorfahren
von den Bäumen kletterten,
ermöglichte ihnen der flexible Griff
Bau und Nutzung komplexer Werkzeuge.
Zwar hätten auch an breiten Fingern
Krallen wachsen können,
aber die spitzen Enden
hätten die Primaten wohl
bei ihren Tätigkeiten gestört.
Klauen sind ideal zum Schneiden,
Durchbohren und Festkrallen,
aber die spitzen Enden machen
das Festhalten schwierig und gefährlich.
Doch werden Krallen wie Nägel
oft auf unerwartete Art genutzt.
Seekühe greifen mit ihren Nägeln Futter,
und Forscher vermuten,
dass Elefanten mit den Fußnägeln
Vibrationen spüren,
was ihnen beim Hören hilft.
Bei einigen Primaten
wie dem Fingertier aus Madagaskar
haben sich erneut Krallen gebildet.
Sie nutzen diese extralangen Fortsätze,
um Äste und Stämme abzuklopfen
und mit ihren fledermausartigen
Ohren nach Hohlräumen zu suchen.
Wenn sie solche Stellen orten,
kratzen sie die Rinde auf
und spießen Maden mit
dem nadelartigen Mittelfinger auf.
Wir kratzen hier nur an der Oberfläche
der genialen Möglichkeiten,
wie Nägel und Krallen
im Tierreich genutzt werden.
Doch welcher dieser Fortsätze ist besser?
Auf diese Antwort wird sich
wohl niemand festnageln lassen.