Yana Savchuck war eine 36-jährige russische Frisörin, die in Orion lebte, einer Stadt 400km entfernt von Moskau, und einen Mann datete, der sie nicht liebte, sie schlug und letzendlich tötete. Aber Yana hätte gerettet werden können. Als sie im November die Polizei anrief und sagte, ihr Mann werde sie umbringen, wurde sie vom Polizisten nicht ernst genommen. "Keine Sorge, wenn er dich umbringt, untersuchen wir die Leiche", sagte er, wie eine Aufnahme auf dem Handy des Opfers belegt. Vierzig Minuten später war Yana tot, geschlagen von demselben Mann, den die Polizei nicht festnehmen wollte. Ich bin immer sprachlos, wenn ich von diesen Fällen höre, von der häuslichen Gewalt und den Frauenmorden in meinem Land. Ich erinnere mich daran, dass als ich im letzten Jahr der Grundschule war und in einer großen Stadt lebte, nur wenige meiner Freundinnen ganz alleine nach Hause gingen. Eine von ihnen erzählte, ihre Mutter habe es ihr verboten, da sie von einem Mädchen gehört hatte, das nur zwei Jahre älter als wir war und das auf dem Heimweg vom Sport getötet wurde. Ich erinnere mich auch an Fortunata, eine 90-jährige Frau, die ich kannte, die in einem kleinen Dorf in Süditalien lebte und dachte, es sei normal, dass ihr Mann sie regelmäßig schlug -auch nach 70 Jahren Ehe noch- und ihn nicht verlassen wollte, obwohl ihre Kinder sie dazu ermunterten. Nachdem ich von diesen Fällen gehört hatte, wurde mir erstmals klar, dass die Realität nicht so war, wie ich sie erwartet hatte und auch nicht der entsprach, an die meine Eltern und Lehrer glaubten: Geschlechtergleichheit ist nicht immer Realität und die Opfer von Gewalt bekommen nicht immer Hilfe oder Schutz. Vor ein paar Jahren wurde mir beim Lesen der Titelzeilen der lokalen Zeitungen bewusst, dass diese Probleme in jedem Land auf der ganzen Welt vorkommen. In den USA werden täglich fast drei Frauen von ihrem Partner getötet, so berichtet das Violence Policy Center während dieses Phänomen in Ländern wie Pakistan bereits endemisch ist. Durch diese Artikel wurde mir klar, dass selbst die Gesetzgebung in solchen furchtbaren Situationen unfair sein kann. Ich war schockiert, als ich herausfand, dass in Russland 2009 mindestens 14.000 Frauen durch häusliche Gewalt starben, wie das Kommittee für soziale Sicherheit der Duma bekannt gab. Die offiziellen Statistiken des russischen Innenministeriums verzeichnen 4 Millionen Missbrauchsfälle in 2015. Die wohl hohe Zahl an ungemeldeten Fällen fließt jedoch hier nicht mit ein, da 90% der Opfer der Polizei Fälle von häuslicher Gewalt nicht melden. Nun, bei diese hohen Zahlen würde man erwarten, dass es heutzutage strikte Gesetze gegen Missbrauch gibt. Das ist jedoch nicht der Fall. 2016 wurden Missbraucher zu bis zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. 2017 wurde jedoch ein neues Gesetz präsentiert, und mit großer Mehrheit vom Parlament verabschiedet, nach dem eine Ersttat mit einer Geldstrafe geahndet wird und eine Folgetat mit einer Strafanzeige, aber nur wenn beide Straftaten innerhalb eines Jahres erfolgen. Mit anderen Worten, dürfen heute russische Männer ihre Frau einmal pro Jahr schlagen, ohne als Kriminelle angesehen zu werden. Und hinzu kommt noch, dass die Orthodoxe Kirche und konservativen Gruppen dieses Gesetz als Weg sehen, traditionelle Familienwerte zu erhalten. Als ich erstmals von diesem Gesetz hörte, hatte ich zwei Optionen: weiterzumachen als wäre nichts passiert oder bei diesem Thema aktiv zu werden, zu erkennen, dass auch wenn ich in einem anderen Land und in einer anderen Gesellschaft lebe und diese Frauen nicht kenne, ich trotzdem ihre Geschichten und ihre Ängste teile, da ich laut der Statistiken wahrscheinlich das Gleiche erleben werde. Deshalb beschloss ich, weiter zu recherchieren. Was ist der wahre Grund für diese Gesetzesänderung in Russland und inwieweit sind ich oder mein Land betroffen? Ein Artikel des Economist von 2017 bezeichnet es als staatlich geförderte Wende in Richtung Traditionalismus, die in Putins 3. Amtszeit stattfand und diese Widersprüche offengelegt hat. Viele Russen befürworten mittlerweile den liberalen Ansatz der individuellen Rechte, aber andere bewegen sich in die entgegengesetze Richtung. Wie wir sehen können, lässt sich dieser Trend in vielen Ländern erkennen, deren Demokratie hoch nicht ganz gefestigt ist und wo authoritäre Regierungen versuchen, die moralische Überlegenheit ihrer traditionellen Werte vor anderen Ländern zu beweisen, vor allem vor westlichen Demokratien. Seit der Verabschiedung des Gesetzes geht die Zahl an Gewaltfällen scheinbar zurück. Das passiert, da es jetzt viel schwieriger für eine Frau ist, ihren Ehemann anzuzeigen. Polizisten geben oft den Opfern die Schuld, helfen ihnen nicht oder ignorieren sie. Und selbst wenn sie versuchen zu helfen, behindert sie die Gesetzesgebung. Gelingt es einer Frau, die Gewaltübergriffe zu melden, wird ihr Mann sie wahrscheinlich zwingen, das Bußgeld selbst zu bezahlen. Aber während auf der einen Seite die Zahl der gemeldeten Fälle zurück geht, nimmt jedoch die Zahl der Notrufe zu, nach Angaben des Gewalt- und Krisenzentrums "Anna". Durch dieses Gesetz kann also die reale Situation vertuscht werden. Wenn ich also eine russiche Frau wäre, die häusliche Gewalt erlebt, was müsste ich tun, um Schutz zu bekommen? Ich müsste die Polizei anrufen, wahrscheinlich mehr als nur einmal, und hoffen, dass jemand den Anruf annimmt, der nicht mir die Schuld gibt, damit ich die Gewalttat erstmals melden kann. Danach würde mein Mann mich wahrscheinlich zwingen, das Bußgeld selbst zu bezahlen. Dann müsste ich wieder bei der Polizei anrufen und hoffen, dass mein Gesprächspartner mich nicht angreift. Dann müsste ich den Gewaltdelikt ein zweites Mal melden, mein Mann würde vielleicht verhaftet und mir Briefe aus dem Gefängnis schreiben, in denen er mir sagt, dass er mich töten möchte, sobald er freigelassen wird. Es ist kaum vorstellbar, was es bedeutet, auch nur einen dieser Schritte zu gehen. Wäre ich es, würde ich genauso entscheiden wie jetzt? Ich denke nicht. Würden meine Freunde mich unterstützen, wie sie es hier und jetzt normal tun? Ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht. Ein weiterer Grund dafür, dass ein Gesetz wie dieses 2018 noch existieren kann, ist dass gesellschaftliche Entwicklung leider nicht immer linear verläuft, anders als in der Wissenschaft. Oft höre ich Leute sagen: "Komm schon! Es ist 2018." Aber, was genau meinen sie? Sie denken, dass weil wir 2018 haben, jedem seine Menschenrechte zustehen, dass jeder respektiert und nicht diskriminiert werden sollte und sich die Gesellschaft konstant weiterentwickeln sollte. Ich wünschte, das wäre der Fall. Wenn in der Wissenschaft eine Entdeckung richtig ist, wird sie zur Basis der nächsten Entdeckung. Die Gesellschaft jedoch könnte jederzeit rückwärts gehen, wie es in Frankreich und anderen Ländern in Europa im 19. Jahrhundert der Fall war, als während der Restauration viele fortschrittliche Gesetze aus der napoletanischen Ära abgeschafft wurden. Es passiert in Russland und könnte überall passieren. Deshalb ist es mir wichtig. Auch kann ich es nicht ertragen, dass die Opfer als Nummern wiedergegeben werden, denn wie Anastasia Potemkina, eine Künstlerin, die ein tolles Kunstprojekt für die Opfer häuslicher Gewalt kreiert hat, sagte: "Es ist nicht so, dass ich versuche, für sie zu sprechen, definitiv nicht, aber ihre fehlende Repräsentation bereitet mir Sorgen." Ich bin heute hier, weil dies nicht die Welt ist, an die ich glaube, die Welt, an die meine Eltern und Lehrer mich gelehrt haben zu glauben, die Welt, die mein Lieblings-YouTuber oder die Gründerin des russichen Frauen-Krisenzentrums erschaffen wollen. Heute möchte ich meine Stimmer erheben für Yana, für Veronica, für Svetlana, für Irina, für Margarita und für all die Frauen, denen das nicht möglich ist. Vielen Dank.