Wir Menschen sind zu außergewöhnlicher Güte fähig, verfügen aber ebenso über eine immense zerstörerische Kraft. Jedes Mittel kann entweder dazu dienen, etwas zu erschaffen oder zu zerstören. Das hängt ganz von unserer Motivation ab. Deshalb ist es umso wichtiger, selbstlose anstelle von egoistischen Motiven zu fördern. Unsere Zeit hält viele Herausforderungen für uns bereit. Das können persönliche Herausforderungen sein: Der eigene Verstand kann der beste Freund oder der ärgste Feind sein. Hinzu kommen gesellschaftliche Herausforderungen: Armut inmitten von Überfluss, Ungleichheit, Konflikte, Ungerechtigkeit. Dann gibt es noch neue, unerwartete Herausforderungen. Vor 10 000 Jahren lebten etwa fünf Millionen Menschen auf der Erde. Egal, was sie anrichteten, die Erde machte den Schaden schnell wieder gut. Mit der Industriellen und Digitalen Revolution änderte sich das. Wir sind nun auf unserer Erde der Haupteinflussfaktor. Das Anthropozän, oder Menschenzeitalter, ist angebrochen. Wenn wir annehmen, wir müssten das unendliche Wachstum und den grenzenlosen Verbrauch an Ressourcen weiter vorantreiben, dann ist das in etwa so, als würde dieser Mann hier -- in Anlehnung an einen früheren Staatschef, dessen Namen ich nicht nenne -- sagen: "Vor fünf Jahren standen wir am Rande des Abgrunds. Heute sind wir einen großen Schritt weiter." Dieser Rand steht für die von Forschern definierten Belastungsgrenzen der Erde. Innerhalb dieser Grenzen -- die von verschiedenen Faktoren abhängen -- kann sich die Menschheit in den nächsten 150 000 Jahren weiter entfalten, sofern wir das Klima so stabil halten wie im Holozän, den letzten 10 000 Jahren. Voraussetzung dafür ist die freiwillige Entscheidung zu einem einfacheren Leben und zu qualitativem statt quantitativem Wachstum. 1900 befanden wir uns, wie Sie hier sehen, innerhalb der sicheren Grenzen. 1950 setzte die große Beschleunigung ein. Halten Sie einen kurzen Moment inne für das, was jetzt kommt. Wir haben einige Belastungsgrenzen unseres Planeten weit überschritten. Schreitet etwa das Artensterben weiter so schnell voran, werden bis 2050 30 Prozent aller Arten von der Erde verschwunden sein. Selbst durch Aufbewahren ihrer DNS lässt sich das nicht rückgängig machen. Hier sitze ich vor einem 7 000 Meter hohen Gletscher in Bhutan. Im Himalaya gibt es 2 000 Gletscher, die rascher schmelzen als der Nordpol. Was können wir in Anbetracht dessen tun? Trotz ihrer politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Komplexität ist die Umweltfrage im Grunde eine Frage von Altruismus versus Egoismus. Ich bin ein Marxist à la Groucho. (Lachen) Groucho Marx sagte: "Was kümmern mich die künftigen Generationen? Was haben sie je für mich getan?" (Lachen) Leider hat der Milliardär Steve Forbes auf Fox News genau dasselbe gesagt, es aber ernst gemeint. Zum Anstieg des Meeresspiegels sagte er: "Ich finde es unsinnig, mein heutiges Verhalten zu ändern, wenn es erst in 100 Jahren zum Tragen kommt." Interessiert Sie also das Wohl künftiger Generationen nicht, dann nur zu. Eine der größten Herausforderungen unserer Zeit besteht darin, drei Zeitdimensionen in Einklang zu bringen: die Kurzfristigkeit der Wirtschaft bei Börsenschwankungen und Jahresabschlüssen; die mittelfristige Entwicklung unserer Lebensqualität über einen Zeitraum von 10 oder 20 Jahren; und die langfristige Entwicklung der Umwelt. Eine Unterhaltung zwischen Umweltschützern und Ökonomen klingt wie ein völlig zusammenhangloser schizophrener Dialog, sie sprechen unterschiedliche Sprachen. In den letzten 10 Jahren habe ich die ganze Welt bereist. Ich traf Wirtschafts-, Natur- und Neurowissenschaftler, Umweltschützer, Philosophen und Denker im Himalaya wie andernorts. Mir scheint, die drei Zeitdimensionen lassen sich nur durch ein Prinzip in Einklang bringen: mehr Rücksichtnahme auf andere. Größere Rücksichtnahme führt zu einer umsichtigeren Wirtschaftsform, in der das Finanzwesen im Dienste der Gesellschaft steht und nicht umgekehrt. Das heißt, dass man die einem anvertrauten Ressourcen nicht im Kasino verspielt. Mehr Rücksicht auf andere spornt dazu an, soziale Ungerechtigkeiten zu beheben und zum Wohlergehen in der Gesellschaft, in der Bildung und am Arbeitsplatz beizutragen. Was bringt es denn einem Staat, wenn er der mächtigste und reichste ist, es aber allen Menschen schlecht geht? Mehr Rücksicht auf andere verhindert auch, dass wir unseren Planeten weiter plündern, als hätten wir drei Erden zur Verfügung. Die Frage ist also: Altruismus ist die Antwort, nicht bloß ein neuartiges Ideal, aber ist er auch eine echte, praktikable Lösung? Gibt es ihn überhaupt, den wahren Altruismus, oder sind wir zutiefst egoistisch? Manchen Philosophen zufolge sind wir hoffnungslose Egoisten. [Ich habe an den Menschen wenig Gutes gefunden. Die meisten sind nach meiner Erfahrung Gesindel. -- Sigmund Freud] Sind wir wirklich alle bloß Gesindel? Sehr erbaulich. Viele Philosophen, darunter Hobbes, waren davon überzeugt. Aber nicht alle sehen wie Gesindel aus. [Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen. -- Plautus] Dieser Kerl sieht aber gar nicht so übel aus. Er ist einer meiner Freunde in Tibet. Er ist sehr liebenswürdig. Außerdem arbeiten wir Menschen sehr gerne zusammen. Es gibt eigentlich keine größere Freude. Und das gilt nicht nur für Menschen. Dann gibt es noch den Kampf ums Dasein, das Überleben des Stärkeren, den Sozialdarwinismus. (Lachen) Wettbewerb existiert natürlich. Dennoch muss die Zusammenarbeit evolutionshistorisch weit kreativer sein, um ein komplexeres Niveau zu erreichen. Wir haben ein starkes Kooperationstalent und sollten noch viel weiter gehen. Hinzu kommt die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. In einer Umfrage untersuchte die OECD 10 Glücksfaktoren wie z. B. Einkommen. Auf die Frage, was für sie Glück ausmache, nannten die Befragten an erster Stelle die Qualität sozialer Beziehungen. Und das gilt nicht nur für Menschen. Sehen Sie sich einmal diese Urgroßmütter an. Dass wir im Grunde unseres Herzens hoffnungslose Egoisten seien, ist eine Stammtisch-Theorie. In keiner einzigen soziologischen oder psychologischen Studie wurde das je bewiesen. Eher das Gegenteil. Mein Freund Daniel Batson setzte sein Leben lang Menschen unter Laborbedingungen sehr komplexen Situationen aus. Natürlich sind wir manchmal egoistisch, die einen mehr, die anderen weniger. Aber Batsons Experimente zeigten immer wieder, dass beachtlich viele Menschen trotz aller Widrigkeiten selbstlos handeln. Wenn man einen Schwerverletzten mit starken Schmerzen sieht, wird man vielleicht allein aus Empathiegründen helfen: Das Mit-Leiden ist unerträglich; daher helfen wir lieber statt zuzusehen. Batsons Tests zeigten eindeutig: Menschen können selbstlos sein. Ein erfreuliches Ergebnis. Bedenken wir auch, wie häufig uns Güte als etwas Alltägliches begegnet. Wie etwa gerade jetzt. Beim Hinausgehen werden wir sicher nicht sagen: "Wie schön, dass es keine Prügelei gab, während dieser Mönch über Altruismus sinnierte." Nein, denn davon geht man ja aus. Wenn es eine Prügelei gäbe, würden wir monatelang davon sprechen. Wegen seiner Alltäglichkeit erregt das Gute keine Aufmerksamkeit. Dennoch ist es vorhanden. Noch ein Beispiel: Nachdem ich von meinen 140 humanitären Projekten im Himalaya erzählt hatte, die mir sehr viel Freude bereiten, erklärten mir einige Psychologen: "Aha, Sie machen das also des guten Gefühls wegen. Das ist nicht selbstlos. Sie fühlen sich einfach gut dabei." Glauben Sie, dieser Mann hier dachte bei seinem Sprung vor den Zug: "Danach werde ich mich so gut fühlen!" (Lachen) Doch damit nicht genug. Es heißt außerdem, er habe im Nachhinein angegeben: "Ich hatte keine Wahl. Natürlich musste ich springen." Eine automatische Reaktion also. Das sei weder egoistisch noch selbstlos. Keine Wahl? Natürlich überlegt dieser Mann nicht eine halbe Stunde lang: "Soll ich ihm die Hand reichen? Oder nicht?" Er tut es. Seine Wahl ist eine naheliegende und dringliche. Auch der hier hatte eine Wahl. (Lachen) Es gibt Menschen, die eine Wahl hatten, wie Pfarrer André Trocmé und seine Frau und das ganze Dorf Le Chambon-sur-Lignon in Frankreich. Während des Zweiten Weltkriegs retteten sie 3 500 Juden das Leben. Unter Gefährdung ihres eigenen Lebens und ihrer Familie boten sie den Juden Unterschlupf und brachten sie in die Schweiz. Altruismus existiert wirklich. Was aber ist Altruismus? Es ist der Wunsch, andere mögen glücklich sein und den Schlüssel zum Glück finden. Empathie wiederum ist die affektive oder kognitive Resonanz, die uns verrät: Dieser Mensch freut sich, dieser Mensch leidet. Doch Empathie allein ist nicht genug. Wenn man ständig von Leid umgeben ist, kann sich Empathie in Stress umkehren und erschöpfen. Deshalb brauchen wir den größeren Rahmen liebevoller Güte. Zusammen mit Tania Singer vom Max-Planck-Institut in Leipzig haben wir gezeigt, dass Empathie und liebevolle Güte im Gehirn unterschiedlich vernetzt sind. Das ist zwar alles schön und gut als ein Resultat der Evolution, der mütterlichen Fürsorge, elterlichen Liebe, aber wir müssen das ausdehnen. Es kann auch auf andere Spezies ausgedehnt werden. Für eine selbstlosere Gesellschaft brauchen wir zwei Dinge: individuelle Veränderung und gesellschaftliche Veränderung. Ist indidviduelle Veränderung denn möglich? 2 000 Jahre kontemplative Forschung haben gezeigt: Ja, sie ist möglich. 15 Jahre Zusammenarbeit mit Neurologen und Epigenetikern zeigen uns jetzt: Ja, unser Gehirn verändert sich, wenn wir uns in Altruismus üben. Ich habe 120 Stunden im Kernspintomografen verbracht. Das ist nach den ersten zweieinhalb Stunden. Die Ergebnisse erschienen in vielen wissenschaftlichen Artikeln. Es wurde eindeutig bewiesen, dass das Gehirn strukturelle und funktionelle Veränderungen erfährt, wenn man selbstlose Liebe praktiziert. Zur besseren Veranschaulichung: links das Gehirn eines Meditierenden, wenn er nicht meditiert, und während der Mitgefühlsmeditation. Sie sehen die Hirnaktivität. Daneben die Kontrollgruppe im Ruhezustand: keinerlei Aktivität, während der Meditation: keinerlei Aktivität. Sie sind ungeübt. Muss man dafür 50 000 Stunden meditieren? Nein. Bereits nach vier Wochen mit 20 Minuten achtsamer Meditation pro Tag gibt es strukturelle Veränderungen im Gehirn im Vergleich zur Kontrollgruppe. Nach nur 20 Minuten pro Tag, vier Wochen lang. Es funktioniert sogar bei Kindern. Das zeigte Richard Davidson in Madison. Ein achtwöchiges Programm aus Übungen zu Dankbarkeit, Mitgefühl, Zusammenarbeit, achtsamer Atmung. Sie denken jetzt bestimmt: "Das sind doch nur Vorschulkinder". Das Ergebnis nach acht Wochen: Die blaue Linie zeigt das prosoziale Verhalten. Dann kam der wissenschaftlich entscheidende Versuch mit den Aufklebern. Zuerst nennt jedes Kind seinen besten Freund in der Klasse, dann das Kind, das es am wenigsten mag, dann ein fremdes und ein krankes Kind. Dann müssen sie Aufkleber verteilen. Vor dem Programm gaben sie ihrem besten Freund die meisten Aufkleber. Vier, fünf Jahre alt, 20 Minuten, dreimal pro Woche. Nach dem Programm gab es keine Benachteiligung mehr: gleich viele Aufkleber für den besten Freund und das unliebsamste Kind. Das sollten wir doch in allen Schulen der Welt einführen. Doch wie geht es weiter? (Applaus) Als der Dalai Lama davon erfuhr, sagte er zu Richard Davidson: "Mach das in 10 Schulen, in 100 Schulen, bei der UNO, auf der ganze Welt." Wie geht es jetzt also weiter? Individuelle Veränderung ist möglich. Sollen wir darauf warten, dass ein menschliches Gen für Altruismus entsteht? Das würde 50 000 Jahre dauern, zu lang für die Umwelt. Glücklicherweise gibt es die kulturelle Evolution. Wie Fachleute bewiesen haben, verändern sich Kulturen viel schneller als Gene. Eine gute Nachricht. Die Einstellung gegenüber Krieg hat sich mit den Jahren drastisch geändert. Individuelle und kulturelle Veränderung formen sich gegenseitig. Deshalb können wir eine selbstlosere Gesellschaft schaffen. Und dann? Ich für meinen Teil, werde in den Osten zurückgehen. In unseren Projekten behandeln wir derzeit 100 000 Patienten pro Jahr. 25 000 Kinder besuchen die Schule, bei nur 4 % Gemeinkosten. Manche sagen: "Das funktioniert vielleicht in der Praxis, aber funktioniert es auch in der Theorie?" Positive Abweichung gibt es immer. Ich werde mich auch deshalb in mein Kloster zurückziehen, um die innere Kraft zu finden, anderen besser helfen zu können. Doch was können wir auf globaler Ebene tun? Wir brauchen drei Dinge: Förderung der Zusammenarbeit: gemeinschaftliches statt konkurrierendes Lernen in den Schulen, uneingeschränkte Zusammenarbeit innerhalb von Unternehmen -- Konkurrenz darf nur zwischen, nicht jedoch innerhalb Unternehmen existieren. Wir brauchen nachhaltige Harmonie. Ich liebe diesen Begriff. Kein nachhaltiges Wachstum mehr. Nachhaltige Harmonie heißt, ab jetzt reduzieren wir Ungleichheit. Dann können wir zukünftig aus weniger mehr machen und qualitativ weiterwachsen, nicht quantitativ. Wir brauchen eine fürsorgliche Wirtschaftsform. Der Homo oeconomicus kann trotz Überfluss die Armut nicht senken, er schafft es nicht, mit dem Problem des Allgemeinguts in der Atmosphäre und im Ozean umzugehen. Wir brauchen eine fürsorgliche Wirtschaft. Fordert man von der Wirtschaft mehr Mitgefühl, antworten sie: "Das ist nicht unsere Aufgabe". Aber sagt man ihnen, sie nähmen keine Rücksicht, sieht es schlecht aus. Wir brauchen regionales Bemühen und globale Verantwortung. Wir müssen unseren Altruismus auf die anderen 1,6 Mio. Spezies ausweiten. Alle fühlenden Wesen sind unsere Mitbürger auf der Erde. Und wir brauchen mehr Mut zu Altruismus. Lang lebe die Revolution des Altruismus. Viva la revolución de altruismo. (Applaus) Vielen Dank. (Applaus)