Meine Geschichte handelt davon, wie wir zu unserem Wissen kommen. Sie handelt von dieser Frau: Natalia Rybczynski. Sie ist Paläobiologin. Das bedeutet, sie gräbt ganz altes, totes Zeug aus. (Audio) Natalia Rybczynski: Jemand nannte mich mal "Leichendoktorin". Latif Nasser: Besonders interessant finde ich sie wegen ihres Ausgrabungsorts weit nördlich des Polarkreises in der abgelegenen kanadischen Tundra. An einem Sommertag im Jahr 2006 war sie an der Grabungsstätte Fyles Leaf Bed, weniger als zehn Breitengrade vom magnetischen Nordpol entfernt. (Audio) NR: Es klingt wohl nicht so besonders aufregend, denn wir waren an jenem Tag nur mit Rucksack, GPS und Laptop unterwegs und nahmen alles mit, was möglicherweise ein Fossil sein könnte. LN: Und irgendwann entdeckte sie etwas. (Audio) NR: Rostig, irgendwie rostfarben, etwa so groß wie meine Handfläche. Es lag da einfach so auf der Oberfläche. LN: Zuerst dachte sie, es sei nur ein Holzsplitter. Prähistorische Pflanzenteile waren nämlich im Fyles Leaf Bed bereits öfter gefunden worden. Aber in jener Nacht, am Zeltplatz ... (Audio) NR: ... nahm ich die Lupe, sah ein wenig genauer hin und erkannte, dass dieses Fundstück keine Jahresringe aufwies. Lag das an der Konservierung? Aber es sah eigentlich eher aus wie ein ... Knochen. LN: In den darauffolgenden vier Jahren also kehrte sie immer wieder an diesen Fundort zurück und sammelte insgesamt 30 Fragmente dieses einen Knochens. Viele davon waren ganz winzig. (Audio) NR: Es ist nicht wirklich viel. Es passt in einen Gefrierbeutel. LN: Sie versuchte, die Fragmente wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Das war eine Herausforderung. (Audio) NR: Es war in viele winzig kleine Stücke zerbrochen und ich versuchte es mit Sand und Kitt, aber das schien eher aussichtslos. Letztendlich kam ein 3D-Oberflächenscanner zum Einsatz. LN: Oooh! NR: Cool, oder? (Gelächter) LN: Virtuell war es dann viel einfacher. (Audio) NR: Es ist magisch, wenn sich alles zusammenfügt. LN: Wie sicher warst du dir, alles richtig zusammengefügt zu haben? Hätte eine andere Zusammensetzung vielleicht einen Sittich oder so ergeben können? (Gelächter) (Audio) NR: (lacht) Ähm, nein. Nein, das stimmt so. LN: Das entdeckte Objekt war ein Schienbein, ein Beinknochen also. Dieses hatte einmal einem paarhufigen Säugetier gehört, zum Beispiel einer Kuh oder einem Schaf. Für eine Kuh oder ein Schaf allerdings war der Knochen zu groß. (Audio) NR: Der Knochen war riesig. Es war wohl ein sehr großes Tier gewesen. LN: Welches Tier kam dafür in Frage? Da sie nicht mehr weiterwusste, zeigte sie ein Fragment einigen ihrer Kollegen in Colorado und die hatten eine Idee. (Audio) NR: Mit einer Säge machten wir einen kleinen Einschnitt an der Kante und dann trat da ein sehr interessanter Geruch aus. LN: Es roch irgendwie nach leicht verbranntem Fleisch. Natalia kennt diesen Geruch aus ihrem ekligen Anatomielabor, wenn sie Schädel aufschneidet: Kollagen. Kollagen verleiht unseren Knochen Struktur. Nach so vielen Jahren zersetzt es sich normalerweise. In diesem Fall hatte die Arktis es wie ein Gefrierschrank konserviert. Ein oder zwei Jahre später war Natalia auf einer Konferenz in Bristol, wo ein Kollege namens Mike Buckley ein neues Verfahren der Kollagenanalyse demonstrierte. Unterschiedliche Arten haben nämlich eine leicht unterschiedliche Kollagenstruktur. Die Kollagenstruktur eines unbekannten Knochens kann nun mit jener von bekannten Arten verglichen werden und, wer weiß, vielleicht landet man einen Treffer. Also schickte sie ihm eines der Fragmente mit FedEx. (Audio) NR: Bei so einer wichtigen Sendung will man den Verlauf kennen. (Gelächter) LN: Die Knochenprobe wurde analysiert und mit 37 bekannten, neueren Säugetierarten verglichen. Es gab einen Treffer. Der 3,5 Millionen Jahre alte Knochen, den Natalia in der Hocharktis ausgegraben hatte, gehörte ... einem Kamel. (Gelächter) (Audio) NR: Ich dachte mir: Was? Das ist unglaublich, wenn es stimmt. LN: Auch die Analyse weiterer Fragmente lieferte für jedes dasselbe Ergebnis. Angesichts der Größe des gefundenen Knochens jedoch musste das Kamel um 30 Prozent größer gewesen sein als heutige Kamele. Das Kamel wäre demnach 2,75 Meter groß gewesen und hätte etwa eine Tonne gewogen. (Erstaunen) Ja. Natalia hatte also ein arktisches Riesenkamel gefunden. (Gelächter) Wenn wir das Wort "Kamel" hören, dann denken wir womöglich an das Trampeltier in Ost- und Zentralasien. Aber sehr wahrscheinlich ist das Bild in unserem Kopf eher das eines Dromedars, des Wüstentiers schlechthin, das in sandigen, heißen Gegenden wie dem Nahen Osten oder der Sahara lebt, in seinem großen Höcker Wasser für lange Wüstenwanderungen speichert und mit seinen großen, breiten Füßen über die Dünen stapft. Wie um alles in der Welt landet ein solches Tier in der Hocharktis? Nun, Wissenschaftler wussten schon lange vor Natalias Entdeckung, dass Kamele ursprünglich aus Amerika kommen. (Musik: Nationalhymne der USA) (Gelächter) Daher stammen sie. Kamele gibt es seit 45 Millionen Jahren und 40 Millionen Jahre lang waren die rund 20 verschiedenen Arten nur in Nordamerika heimisch. (Audio) LN: Unterschieden sich diese Arten dem Aussehen nach? NR: Ja, sie waren unterschiedlich groß. Einige hatten ziemlich lange Hälse und wären damit den Giraffen ähnlich. LN: Einige hatten Schnauzen wie Krokodile. (Audio) NR: Die ältesten Exemplare waren sehr klein, fast so klein wie Hasen. LN: Was? Kamele in Hasengröße? (Audio) NR: Ja, die ältesten. Diese würdest du vermutlich nicht erkennen. LN: Ich will ein Hasen-Kamel als Haustier. (Audio) NR: Ja, das wäre doch toll, oder? (Gelächter) LN: Und dann, vor etwa drei bis sieben Millionen Jahren wanderte eine Kamelart nach Südamerika, wo sie sich zu Lamas und Alpakas entwickelte. Eine andere Art überquerte die Beringbrücke nach Asien und Afrika. Gegen Ende der letzten Eiszeit schließlich starben die Kamele Nordamerikas aus. All das wussten Wissenschaftler schon, aber es erklärt noch nicht ganz, warum Natalia so weit nördlich eines fand, in Breiten, die von der Temperatur her quasi den Gegenpol zur Sahara bilden. Zwar war es vor dreieinhalb Millionen Jahren durchschnittlich um 22 Grad wärmer als heute und die Landschaft glich wohl einer Taiga, wie wir sie im heutigen Yukon oder in Sibirien finden. Trotzdem waren in den sechs Wintermonaten die Teiche wohl zugefroren und es tobten Schneestürme. Es war 24 Stunden am Tag völlig dunkel. Also, wie ... wie nur? Wie konnte einer der Superstars der Sahara jemals die arktischen Bedingungen überleben? (Gelächter) Natalia und ihre Kollegen glauben die Antwort zu kennen. Und die Antwort ist brillant. Was ist, wenn genau jene Merkmale des Kamels, die so gut an die Sahara angepasst scheinen, in Wirklichkeit dazu dienten, den Winter zu überleben? Was ist, wenn diese breiten Füße nicht für den Sand, sondern für den Schnee bestimmt waren, wie ein Paar Schneeschuhe? Was ist, wenn sein Höcker -- und das war mir völlig neu -- nicht Wasser, sondern Fett enthält, (Gelächter) damit das Kamel damals den sechsmonatigen Winter überstand, wenn das Futter knapp war? Was ist, wenn es erst später -- lange nach Überquerung der Landbrücke -- seine Wintermerkmale an das heiße Wüstenklima anpasste? Beispielsweise kann der Höcker in heißeren Gegenden von Vorteil sein: Durch die Speicherung des Fetts an einer Stelle -- in einer Art Fettrucksack -- kann man sich die Wärmedämmung am restlichen Körper sparen. Die Wärme kann so leichter abgeführt werden. Es ist eine verrückte Vorstellung, dass jene Merkmale, die das Kamel scheinbar als Wüstenbewohner auszeichnen, eigentlich ein Nachweis für seine hocharktische Vergangenheit sein könnten. Ich bin nicht der Erste, der diese Geschichte erzählt. Andere haben damit ihr Staunen über die Evolutionsbiologie ausgedrückt oder einen kleinen Einblick in die Zukunft des Klimawandels gegeben. Mir jedoch gefällt sie aus einem ganz anderen Grund. Für mich ist sie eine Geschichte über uns, unsere Weltsicht und die Veränderung dieser Weltsicht. Ich bin ausgebildeter Historiker und weiß mittlerweile, dass auch viele Naturwissenschaftler Historiker sind. Sie deuten die Vergangenheit. Sie erzählen die Geschichte unseres Universums, der Erde und des Lebens hier. Als Historiker beginnt man mit einer Vorstellung davon, wie die Geschichte wohl lauten könnte. (Audio) NR: Wir erfinden Geschichten und bleiben dabei, wie beim Kamel in der Wüste, oder? Eine tolle Geschichte! Es ist perfekt angepasst. Offensichtlich hat es schon immer dort gelebt. LN: Wir könnten aber jederzeit einen winzigen Hinweis entdecken und eine Kleinigkeit dazulernen, die uns dazu bringen, unser gesamtes Wissen neu zu überdenken. So war das, als eine Wissenschaftlerin einen einzigen Splitter fand und ihn zunächst für Holz hielt. Der Fund war Anlass für eine neue und scheinbar abwegige Theorie über die Gründe für das Aussehen jenes Wesens, das einer absurden Zeichentrickfigur ähnelt. Mein Denken über das Kamel wurde dadurch völlig auf den Kopf gestellt. Es wurde für mich von einem lächerlichen "Nischentier", das nur an einen einzigen Lebensraum angepasst ist, zu einem Weltenbummler, der zufällig in der Sahara gelandet ist, aber nahezu überall leben könnte. (Applaus) Das ist Azuri. Hallo Azuri, wie geht es dir? Okay, das hier habe ich für dich. (Gelächter) Azuri nimmt sich gerade eine Auszeit von ihren Auftritten in der Radio City Music Hall. (Gelächter) Das ist nicht mal ein Scherz. Wie auch immer, Azuri dient uns als lebendige Erinnerung daran, dass die Geschichte unserer Welt eine dynamische ist. Wir müssen bereit sein, sie anzupassen und neu zu erfinden. (Gelächter) Findest du nicht, Azuri? Wir sind wirklich nur einen Knochensplitter davon entfernt, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Vielen Dank. (Applaus)