WEBVTT

00:00:06.897 --> 00:00:11.697
Wir stellen uns ein typisches Ballett als
harmonisch, graziös und verfeinert vor --

00:00:11.697 --> 00:00:14.406
kaum Eigenschaften, die eine
Aufruhr auslösen würden.

00:00:14.406 --> 00:00:18.366
Aber bei der Uraufführung von
Igor Stravinskys "Die Frühlingsweihe"

00:00:18.366 --> 00:00:23.011
waren Teile des Publikums so aufgebracht,
dass sie das Orchester übertönten.

00:00:23.011 --> 00:00:27.390
Berichte beschreiben, wie Menschen
Gegenstände auf die Bühne schleuderten,

00:00:27.390 --> 00:00:30.397
einander zu Prügeleien herausforderten,
und verhaftet wurden --

00:00:30.397 --> 00:00:34.297
an einem Abend, an dem eine kultivierte
Ballettvorführung vorgesehen war.

00:00:34.297 --> 00:00:36.987
"Die Frühlingsweihe" wurde im Mai 1913

00:00:36.987 --> 00:00:39.897
im Théâtre des Champs-Elysées 
in Paris uraufgeführt

00:00:39.897 --> 00:00:43.317
und spielt in prähistorischer Zeit.

00:00:43.317 --> 00:00:46.337
Die Erzählung folgt einer alten
heidnischen Gemeinschaft,

00:00:46.337 --> 00:00:50.042
die die Erde anbetet und
die Opferung einer Frau vorbereitet,

00:00:50.042 --> 00:00:52.402
die den Wechsel der Jahreszeiten
veranlassen soll.

00:00:52.402 --> 00:00:55.672
Das Ballett befasst sich jedoch mehr
mit der gewalttätigen Beziehung

00:00:55.672 --> 00:00:58.335
zwischen Menschen, Natur und Kultur

00:00:58.335 --> 00:01:00.525
als mit Charakterdarstellung
oder Handlung.

NOTE Paragraph

00:01:00.525 --> 00:01:04.075
Diese Themen werden in einer wahrlich
verstörenden Darbietung greifbar,

00:01:04.075 --> 00:01:09.285
die harsche Musik, ruckartigen Tanz und
ein unheimliches Bühnenbild kombiniert.

00:01:09.285 --> 00:01:13.475
Zu Beginn erwachen die Tänzer zu 
den Klängen eines einzelnen Fagotts,

00:01:13.475 --> 00:01:16.276
das in einer schaurig
hohen Tonlage spielt.

00:01:16.276 --> 00:01:20.636
Es folgen misstönende Streicher,
unterbrochen von unerwarteten Pausen,

00:01:20.636 --> 00:01:22.780
während die Tänzer zur Musik zucken.

00:01:22.780 --> 00:01:26.200
Dies ist der brutale
Einstieg in das Ballett,

00:01:26.200 --> 00:01:28.140
welches das Publikum auf Äußerste reizte

00:01:28.140 --> 00:01:31.050
und die Konventionen
klassischer Musik zertrümmerte.

NOTE Paragraph

00:01:31.050 --> 00:01:33.070
Mit diesen und vielen weiteren Mitteln

00:01:33.070 --> 00:01:35.910
hat "Die Frühlingsweihe" 
die Orchestertraditionen

00:01:35.910 --> 00:01:37.450
des 19. Jhd. herausgefordert.

00:01:37.450 --> 00:01:40.390
"Die Frühlingsweihe" wurde am 
Vorabend des Ersten Weltkriegs

00:01:40.390 --> 00:01:42.440
und der Russischen Revolution komponiert

00:01:42.440 --> 00:01:44.520
und brodelt regelrecht vor Dringlichkeit.

00:01:44.520 --> 00:01:47.810
Diese Spannung zeigt sich
in zahlreichen formalen Experimenten,

00:01:47.810 --> 00:01:52.060
etwa innovativer Synkopierung
oder uneinheitlichem Rhythmus;

00:01:52.060 --> 00:01:54.647
Atonalität oder dem Fehlen
eines einzelnen Tons,

00:01:54.647 --> 00:01:57.907
sowie dem Vorhandensein
mehrfacher Taktbezeichnungen.

00:01:57.907 --> 00:02:00.647
Mit diesen auffallend modernen Merkmalen

00:02:00.647 --> 00:02:04.137
verband Stravinsky Aspekte
von russischer Volksmusik --

00:02:04.137 --> 00:02:06.627
eine Kombination,
die willentlich die Erwartungen

00:02:06.627 --> 00:02:10.447
seines gebildeten, urbanen
Publikums sprengte.

NOTE Paragraph

00:02:10.447 --> 00:02:13.507
Stravinsky gebrauchte hier
die Volksmusik nicht zum ersten Mal.

00:02:13.507 --> 00:02:17.617
Er wurde 1882 in einer Kleinstadt 
nahe St. Petersburg geboren

00:02:17.617 --> 00:02:22.358
und hatte sich mit dem üppigen Ballett
"Der Feuervogel" seinen Ruf erworben.

00:02:22.358 --> 00:02:24.428
Basierend auf einem russischen Märchen

00:02:24.428 --> 00:02:27.358
war diese Produktion durchdrungen 
von Stravinskys Faszination

00:02:27.358 --> 00:02:29.248
für die Kultur des einfachen Volkes.

00:02:29.248 --> 00:02:32.298
Mit "Die Frühlingsweihe" plante er
jedoch ein wilderes Projekt,

00:02:32.298 --> 00:02:36.918
in dem er die Grenzen von Volkskultur und
-musik zu heidnischer Roheit hin öffnete.

NOTE Paragraph

00:02:36.918 --> 00:02:39.492
Stravinky realisierte dieses Vorhaben

00:02:39.492 --> 00:02:42.442
zusammen mit dem
Künstler Nicholas Roerich.

00:02:42.442 --> 00:02:45.702
Roerich war besessen
von der prähistorischen Zeit.

00:02:45.702 --> 00:02:48.522
Er hatte Essays über 
Menschenopfer veröffentlicht

00:02:48.522 --> 00:02:51.432
und an Ausgrabungen 
slawischer Gräber mitgearbeitet,

00:02:51.432 --> 00:02:54.052
neben seiner Arbeit
an Bühnenbildern und Kostümdesign.

00:02:54.052 --> 00:02:57.902
Für "Die Frühlingsweihe" bediente er sich
bei mittelalterlicher russischer Kunst

00:02:57.902 --> 00:03:00.566
und bäuerlicher Kleidung,
um Kostüme zu entwerfen,

00:03:00.566 --> 00:03:02.856
die ungeschickt an den Körpern
der Tänzer hingen.

00:03:02.856 --> 00:03:06.656
Roerich platzierte sie vor lebhaften
Hintergründen von urweltlicher Natur;

00:03:06.656 --> 00:03:10.878
voller zackiger Felsen, bedrohlicher Bäume
und alptraumhafter Farben.

NOTE Paragraph

00:03:10.878 --> 00:03:14.328
Zusammen mit den grellen Bühnenbildern
und der gleißenden Partitur

00:03:14.328 --> 00:03:16.928
war auch die ursprüngliche Choreographie

00:03:16.928 --> 00:03:18.778
ausgesprochen provokativ.

00:03:18.778 --> 00:03:23.048
Sie war das Werk des legendären
Tänzers Vaslav Nijinsky,

00:03:23.048 --> 00:03:27.468
der Tänze entwickelte, um "die Wurzeln
der Bewegung selbst" neu zu denken.

00:03:27.468 --> 00:03:30.428
Obwohl sich Stravinsky 
später frustriert zeigte

00:03:30.428 --> 00:03:32.438
über Nijinskys anspruchsvolle Proben

00:03:32.438 --> 00:03:35.318
und einseitige Interpretation der Musik

00:03:35.318 --> 00:03:39.498
war dessen Choreographie ebenso
bahnbrechend wie Stravinskys Komposition.

00:03:39.498 --> 00:03:41.488
Er verzerrte das traditionelle Ballett --

00:03:41.488 --> 00:03:44.348
zum Erstaunen wie
zum Erschrecken seines Publikums,

00:03:44.348 --> 00:03:48.858
das von ihm die bekannte Verfeinerung 
und Romantik des Genres erwartete.

NOTE Paragraph

00:03:48.858 --> 00:03:52.803
Der Tanz in "Die Frühlingsweihe"
wirkt fahrig und ungleichmäßig

00:03:52.803 --> 00:03:57.883
wobei die Tänzer kauern, sich winden
und wie besessen herumspringen.

00:03:57.883 --> 00:04:00.673
Oft bewegen sich die Tänzer
nicht mit der Musik,

00:04:00.675 --> 00:04:03.265
sondern scheinen gegen sie anzukämpfen.

00:04:03.265 --> 00:04:06.525
Nijinsky wies sie an, 
ihre Zehen einwärts zu drehen

00:04:06.525 --> 00:04:10.341
und nach Sprüngen hart zu landen,
oft aus dem Takt.

00:04:10.341 --> 00:04:12.251
In der ekstatischen Schlußszene

00:04:12.251 --> 00:04:17.691
tanzt sich eine Frau zu Tode, zu lautem
Schlagwerk und misstönenden Streichern.

00:04:17.691 --> 00:04:22.211
Das Ballett endet abrupt mit einem
harschen und eindringlichen Akkord.

NOTE Paragraph

00:04:22.211 --> 00:04:23.797
"Die Frühlingweihe"

00:04:23.797 --> 00:04:27.327
ist noch immer so erschreckend
wie ihre kontroverse Uraufführung,

00:04:27.327 --> 00:04:31.547
und die Schockwellen des Werks
hallen wider und inspirieren andere.

00:04:31.547 --> 00:04:35.837
Man kann seinen Einfluss in den Rhythmen
des modernen Jazz hören,

00:04:35.837 --> 00:04:40.039
in Volksmusik-Elementen in der Klassik,
und sogar in der Musik in Horrorfilmen,

00:04:40.039 --> 00:04:43.979
die noch immer eine tobende Reaktion 
des Publikums hervorrufen.