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Mustafa Akyol: Glaube gegenüber Tradition im Islam

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    Vor einigen Wochen
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    hatte ich die Möglichkeit, nach Saudi Arabien zu gehen.
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    Und das Erste, was ich als Muslim machen wollte,
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    war nach Mekka zu gehen und die Kaaba zu besuchen,
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    den heiligsten Schrein des Islam.
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    Und das habe ich gemacht; ich habe mein rituelles Kleid angezogen,
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    ich bin in die heilige Moschee gegangen,
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    ich habe meine Gebete aufgesagt,
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    ich habe alle Rituale befolgt.
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    Und währenddessen,
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    neben der ganzen Spiritualität,
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    gab es ein banales Detail in der Kaaba,
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    das ich sehr interessant fand.
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    Es gab keine Trennung der Geschlechter.
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    Anders gesagt, Männer und Frauen
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    haben zusammen die Religion ausgeübt.
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    Sie haben den Tawaf zusammen ausgeführt,
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    das Umrunden der Kaaba.
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    Sie waren während des Betens zusammen.
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    Und falls es Sie wundert, warum das überhaupt interessant ist,
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    dann müssen Sie sich den Rest von Saudi Arabien ansehen,
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    weil es ein Land ist
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    das streng zwischen den Geschlechtern geteilt ist.
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    In anderen Worten,
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    als Mann sollte man einfach nicht
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    im gleichen Raum mit einer Frau sein.
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    Und ich habe das auf sehr lustige Art und Weise festgestellt.
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    Ich verliess die Kaaba,
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    um in der Innenstadt von Mekka etwas zu essen.
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    Ich ging zum nächsten Burger King Restaurant.
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    Ich ging dahin –
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    und stellte fest, dass es einen Männerbereich gab,
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    der sorgfältig vom Frauenbereich getrennt war.
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    Und ich musste im Männerbereich zahlen, bestellen und essen.
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    "Das ist lustig." habe ich mir gedacht,
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    "Man kann mit dem anderen Geschlecht in der heiligen Kaaba in Kontakt kommen,
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    aber nicht bei Burger King."
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    Ziemlich ironisch.
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    Ironisch, und ich glaube, es ist auch recht aufschlussreich.
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    Denn die Kaaba und die Rituale darum herum
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    sind Relikte aus der frühesten Phase des Islams,
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    die des Propheten Mohammed.
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    Und wenn es damals besonders wichtig gewesen wäre
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    Männer von Frauen zu trennen,
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    dann hätte man die Rituale um die Kaaba entsprechend gestaltet.
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    Aber das war zu dieser Zeit scheinbar kein Thema.
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    Also entstanden die Rituale so.
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    Es ist auch, glaube ich, bestätigt
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    durch die Tatsache, dass sie Abgeschlossenheit der Frauen,
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    die eine geteilte Gesellschaft erzeugt,
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    etwas ist, dass man im Koran nicht finden kann,
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    dem Kern des Islam –
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    dem göttlichen Kern des Islam,
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    an den alle Muslime, ebenso ich, glauben.
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    Und ich glaube, es ist kein Zufall,
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    dass man diese Idee nicht
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    im Ursprung des Islam findet.
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    Weil viele Gelehrte,
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    die die Geschichte der islamischen Philosophie studieren –
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    muslimische Gelehrte und Westler –
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    denken, dass eigentlich der Brauch,
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    Männer und Frauen räumlich zu trennen,
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    als spätere Entwicklung im Islam entstand,
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    als Muslime bereits existierende
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    Kulturen und Traditionen des Mittleren Osten annahmen.
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    Die Abgeschlossenheit von Frauen war eigentlich
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    ein byzantinischer und persischer Brauch,
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    und Muslime haben das übernommen
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    und zu einem Teil ihrer Religion gemacht.
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    Und das ist wirklich nur ein Beispiel
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    eines viel größeren Phänomens.
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    Was wir heute das Gesetz des Islam nennen und besonders die islamische Kultur –
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    und es gibt eigentlich viele islamische Kulturen;
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    die in Saudi Arabien ist sehr anders
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    als die, wo ich herkomme, in Istanbul oder der Türkei.
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    Aber trotzdem,
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    wenn man über muslimische Kultur spricht,
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    hat diese einen Kern, eine göttliche Botschaft,
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    welche die Religion in Gang setzte,
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    aber dann wurden dem viele Traditionen, Sichtweisen,
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    viele Bräuche zugefügt.
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    Und dies waren Traditionen des Mittleren Osten – mittelalterliche Traditionen.
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    Und da gibt es zwei wichtige Botschaften, oder zwei Lektionen,
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    die man dieser Realität entnehmen kann.
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    Zunächst sollten Muslime –
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    fromme, konservative, gläubige Muslime, die ihrer Religion treu sein wollen –
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    sich nicht an alles in ihrer Kultur klammern
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    in der Annahme, das sei ein göttlicher Auftrag.
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    Vielleicht sind manche Dinge schlechte Traditionen
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    und sie benötigen Änderungen.
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    Andererseits sollten Westler,
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    welche die islamische Kultur ansehen
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    und störende Aspekte erkennen,
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    nicht leichtfertig folgern, dass das der Islam bestimmt.
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    Vielleicht ist es eine Kultur des Mittleren Ostens
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    die mit dem Islam verworren wurde.
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    Es gibt einen Brauch, der webliche Beschneidung genannt wird.
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    Es ist etwas schreckliches, grauenvolles.
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    Es ist im Grunde eine Operation
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    um Frauen sexuellen Genuss vorzuenthalten.
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    Alle Westler, Europäer oder Amerikaner,
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    die vorher nicht davon wussten,
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    begeneten diesem Brauch
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    innerhalb einigen der muslimischen Gemeinden,
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    die aus Nordafrika auswanderten.
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    Und sie haben gedacht: "Oh, was für eine schreckliche Religion ist das,
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    die so etwas vorschreibt."
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    Aber eigentlich, wenn man sich weibliche Beschneidung ansieht,
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    sieht man, dass es nichts mit dem Islam zu tun hat,
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    es ist nur ein nordafrikanischer Brauch,
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    der dem Islam vorausgeht.
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    Es gab ihn während Tausenden von Jahren.
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    Und treffenderweise praktizieren ihn einige Muslime.
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    Muslime in Nordafrika, nicht an anderen Orten.
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    Aber auch die nicht muslimischen Gemeinden in Nordafrika –
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    die Animisten, sogar einige Christen
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    und sogar ein jüdischer Stamm in Nordafrika
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    sind dafür bekannt, weibliche Beschneidungen vorzunehmen.
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    Was also wie ein Problem aussieht
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    innerhalb des islamischen Glaubens,
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    stellt sich vielleicht als Tradition heraus,
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    der sich Muslime angeschlossen haben.
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    Das gleiche kann über Ehrenmorde gesagt werden,
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    welche ein wiederkehrendes Thema in den westlichen Medien sind –
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    und welche selbstverständlich eine grauenvolle Tradition sind.
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    Und wir sehen diese Tradition in der Tat in einigen muslimischen Gemeinden.
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    Aber in den nicht muslimischen Gemeinden im Mittleren Osten,
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    wie zum Beispiel einigen christlichen Gemeinden, östlichen Gemeinden,
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    kann man den gleichen Brauch sehen.
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    Wir hatten einen tragischen Ehrenmord
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    in der armenischen Gemeinde in der Türkei
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    vor nur einigen Monaten.
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    Jetzt sind das Dinge über Kultur im Allgemeinen,
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    aber ich bin auch sehr an politischer Kultur interessiert
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    und daran, ob Freiheit und Demokratie geschätzt werden
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    oder ob es eine autoritäre politische Kultur gibt
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    in der der Staat den Bürgern Dinge aufzwingt.
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    Und es ist kein Geheimnis,
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    dass viele islamische Bewegungen im Mittleren Osten
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    dazu neigen, autoritär zu sein,
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    und einige der so genannten "islamischen Regimes"
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    wie zum Beispiel Saudi Arabien, Iran
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    und der schlimmste Fall war die Taliban in Afghanistan,
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    sie sind ziemlich autoritär – daran gibt es keinen Zweifel.
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    In Saudi Arabien zum Beispiel
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    gibt es ein Phänomen, das Religionspolizei genannt wird.
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    Und die Religionspolizei zwingt
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    die angebliche islamische Lebensweise
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    jedem Bürger auf, mit Gewalt –
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    z.B. werden Frauen gezwungen, ihre Köpfe zu bedecken –
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    den Hidschab zu tragen, die islamische Kopfbedeckung.
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    Das ist ziemlich autoritär,
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    und das ist etwas, dem ich sehr kritisch gegenüber stehe.
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    Aber als ich realisiert habe,
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    dass Nichtmuslime
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    oder die nicht islamisch gesinnten Akteure in der gleichen Region,
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    sich manchmal ähnlich verhalten haben,
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    habe ich festgestellt, dass das Problem vielleicht
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    in der politischen Kultur der gesamten Region liegt, nicht nur dem Islam.
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    Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: In der Türkei, wo ich herkomme,
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    welche eine sehr über-sekuläre Republik ist,
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    hatten wir bis vor kurzem etwas,
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    das ich Säkularismuspolizei nenne,
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    welche die Universitäten beschützen sollte,
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    gegen verhüllte Studentinnen.
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    Anders gesagt, sie würden Studentinnen zwingen
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    ihre Köpfe zu enthüllen.
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    Und ich finde Leute dazu zu zwingen, Ihre Köpfe zu enthüllen
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    ist genauso tyrannisch, wie sie dazu zu zwingen, sie zu verhüllen.
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    Es sollte die Entscheidung des Bürgers sein.
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    Aber als ich das gesehen habe, habe ich gesagt:
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    "Vielleicht ist das Problem
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    nur eine autoritäre Kultur in der Region,
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    und einige Muslime wurden davon beeinflusst."
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    Aber die sekulär gerichteten Leute können davon beeinflusst werden.
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    Vielleicht ist es ein Problem der politischen Kultur,
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    und wir müssen darüber nachdenken,
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    wie man diese politische Kultur ändern kann.
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    Nun sind das einige der Fragen,
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    die ich vor ein paar Jahren im Sinn hatte
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    als ich anfing, ein Buch zu schreiben.
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    Ich sagte mir: "Nun, ich werde darüber forschen,
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    wie der Islam eigentlich zu dem wurde was er heute ist,
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    welche Wege eingeschlagen wurden
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    und welche Wege hätten genommen werden können."
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    Der Name des Buches ist "Islam ohne Extreme: Ein muslimisches Argument für Freiheit".
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    Und wie der Untertitel andeutet,
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    habe ich mir islamische Tradition und die Geschichte der islamischen Philosophie angesehen
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    aus der Perspektive der individuellen Freiheit.
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    Ich habe versucht, die Stärken zu finden
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    in Bezug auf individuelle Freiheit.
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    Und es gibt Stärken in islamischer Tradition.
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    Islam, als eine monotheistische Religion,
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    welche den Menschen selbst als verantwortungsvoll Handelnden definiert,
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    hat die Vorstellung des Individuums im Mittleren Osten kreiert
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    und sie beschützt vor Kommunitarismus, dem Kollektivismus
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    des Stammes.
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    Man kann davon viele Ideen ableiten.
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    Aber abgesehen davon habe ich auch Probleme in der islamischen Tradition gesehen.
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    Aber eine Sache war eigenartig:
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    es stellt sich heraus, dass die meisten dieser Probleme spaeter aufkamen,
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    nicht vom göttlichen Kern des Islam, dem Koran,
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    aber wieder aus Traditionen und Mentalitäten heraus,
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    oder den Interpretationen des Korans,
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    die Muslime im Mittelalter gemacht haben.
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    Der Koran, zum Beispiel,
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    erlaubt keine Steinigung.
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    Es gibt keine Strafe für Glaubensabfall.
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    Es gibt keine Strafe für persönliche Dinge wie trinken von Alkohol.
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    Diese Dinge, die das Gesetz des Islams machen,
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    die störenden Aspekte des Gsetzes des Islams,
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    wurden später entwickelt, in späteren Interpretationen des Islams.
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    Was bedeutet, dass Muslime sich heute
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    diese Dinge anschauen und sagen können:
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    "Nun, der Kern unserer Religion
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    ist hier um bei uns zu bleiben.
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    Es ist unser Glaube und wir werden ihm treu bleiben.".
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    Aber wir können ändern, wie es interpretiert wird,
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    weil es in Bezug auf die Zeit und das Milieu des Mittelalters interpretiert wurde.
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    Jetzt leben wir in einer anderen Welt
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    mit anderen Werten und anderen politischen Systemen.
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    Diese Interpretation ist möglich und machbar.
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    Wenn ich jetzt die einzige Person wäre, die so denkt,
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    dann hätten wir ein Problem.
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    Aber das ist ganz und gar nicht der Fall.
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    Eigentlich gibt es seit dem 19. Jahrhundert
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    eine ganze revisionistische, reformistische –
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    wie auch immer man das nennt –
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    Tradition,
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    einen Trend in islamischem Denken.
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    Und es waren Intellektuelle oder Staatsmänner
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    des 19. Jahrhunderts, und später, des 20. Jahrhunderts,
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    die quasi nach Europa geschaut haben
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    und sahen, dass es in Europa viele Dinge zu bewundern gibt,
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    wie Wissenschaft und Technik.
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    Aber nicht nur das; auch Demokratie, Parlament,
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    die Idee der Vertretung,
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    die Vorstellung von gleichberechtigter Staatsbürgerschaft.
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    Diese muslimischen Denker und Intellektuellen und Staatsmänner
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    des 19. Jahrhunderts sahen nach Europa, sahen diese Dinge.
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    Sie sagten: "Warum haben wir diese Dinge nicht?".
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    Und sie haben zurück zur islamischen Tradition geschaut,
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    sie sahen, dass es problematische Punkte gibt,
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    aber sie sind nicht der Kern der Religion, also können sie vielleicht neu interpretiert werden,
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    und der Koran kann wiedergelesen werden
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    in der modernen Welt.
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    Dieser Trend
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    wird im allgemeinen islamischer Modernismus genannt,
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    und er wurde von Intellektuellen und Staatsmännern vorangebracht,
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    nicht nur als intellektuelle Idee,
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    sondern auch als politisches Programm.
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    Und das ist weshalb das osmanische Reich
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    im 19. Jahrhundert, das den gesamten Mittleren Osten abdeckte,
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    sehr wichtige Reformen unternommen hat –
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    Reformen wie Christen und Juden
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    einen gleichen Staatsangehoerigkeitsstatus zu geben,
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    eine Verfassug anzunehmen,
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    ein stellvertretendes Parlament anzunehmen,
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    die Idee der Religionsfreiheit voranzubringen.
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    Und deshalb wurde das osmanische Reich in seinen letzten Jahrzehnten
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    zu einer Urform der Demokratie,
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    einer konstitutionellen Monarchie.
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    Und Freiheit hatte einen sehr wichtigen politschen Wert zu dieser Zeit.
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    Ähnlich gab es in der arabischen Welt
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    etwas, das der große arabische Historiker Albert Hourani
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    als liberales Zeitalter beschreibt.
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    Er hat ein Buch: "Arabische Gedanken im liberalen Zeitalter".
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    Und das liberale Zeitalter, er definiert es
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    als 19. und frühes 20. Jahrhundert.
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    Das war hauptsächlich der beherrschende Trend
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    im frühen 20. Jahrhundert
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    unter islamischen Denkern und Staatsmaennern und Theologen.
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    Aber es gibt ein sehr eigenartiges Muster
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    im restlichen 20. Jahrhundert,
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    weil wir einen steilen Abfall
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    in dieser islamischen modernistischen Richtung sehen.
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    Und stattdessen
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    entwickelt sich Islamismus
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    zu einer Ideologie, die autoritaer ist,
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    die recht aggresiv ist,
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    die recht antiwestlich ist
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    und die die Gesellschaft basierend auf
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    einer utopischen Vision gestalten möchte.
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    Islamismus ist die problematische Vorstellung,
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    die wirklich viele Probleme in der
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    islamischen Welt des 20. Jahrhunderts geschaffen hat.
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    Und die sehr extremen Formen des Islamismus
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    führten sogar zu Terrorismus im Namen des Islam –
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    was eigentlich eine Praxis ist, die wie ich denke gegen den Islam ist,
  • 11:29 - 11:32
    aber einige Extremisten haben offensichtlich nicht so gedacht.
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    Allerdings gibt es eine merkwürdige Frage:
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    Wenn islamischer Modernismus im
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    19. und frühen 20. Jahrhundert so beliebt war,
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    warum wurde Islamismus im restlichen
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    20. Jahrhundert so beliebt?
  • 11:43 - 11:45
    Und ich denke das ist eine Frage,
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    die vorsichitg diskutiert werden muss.
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    In meinem Buch habe ich mich auch mit dieser Frage befasst.
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    Und an sich muss man keine höhere Mathematik verstehen, um das zu begreifen.
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    Man schaut sich einfach die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts an
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    und man sieht, dass sich die Dinge sehr geändert haben.
  • 11:57 - 11:59
    Der Kontext hat sich geändert.
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    Im 19. Jahrhundert,
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    als Muslime Europa als Beispiel gesehen haben,
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    waren sie unabhängig, selbstsicherer.
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    Im frühen 20. Jahrhundert, mit dem Fall des osmanischen Reichs,
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    war der gesamte Mittlere Osten kolonisiert.
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    Und wenn man Kolonisation hat, was hat man dann?
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    Man hat Antikolonialismus.
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    Europa ist also nicht mehr nur ein Beispiel zum nachahmen;
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    es ist ein Feind zum Bekämpfen und Widersetzen.
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    Es gibt einen sehr steilen Abfall
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    an liberlen Ideen in der muslimischen Welt,
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    und was man sieht ist eher ein defensiver,
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    unbeugsamer, rückschrittlicher Strom,
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    der zum arabischen Sozialismus, arabischen Nationalismus
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    und letzendlich zur Islamismusideologie führte.
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    Und als die Kolonialzeit vorbei war,
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    hatte man an dieser Stelle im Allgemeinen
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    nicht religiöse Diktaturen,
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    die sagen, sie sind ein unabhängiger Staat,
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    aber keine Demokratie in das Land gebracht haben,
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    und ihre eigene Diktatur begründeten.
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    Ich denke der Westen, wenigstens einige Mächte im Westen,
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    insbesondere die USA,
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    haben den Fehler gemacht, diese weltlichen Diktatoren zu unterstützen,
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    in der Annahme, dass sie für ihre eigenen Interessen nützlicher wären.
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    Aber die Tatsache, dass diese Diktatoren
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    Demokratie im eigenen Land unterdrückt haben
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    und islamische Gruppen in ihrem Land unterdrückt haben
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    hat die Islamisten noch aggressiver gemacht.
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    Also, im 20. Jahrhundert
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    gab es den Teufelskreis in der arabischen Welt
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    in dem eine Diktatur die eigenen Leute unterdrückt hat,
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    einschliesslich der frommen Islamisten,
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    und sie reagieren auf reaktionäre Weise.
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    Es gab jedoch ein Land
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    das fliehen oder sich fernhalten konnte
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    von diesem Teufelskreis.
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    Und das ist das Land aus dem ich komme; das ist die Türkei.
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    Die Türkei war nie eine Kolonie,
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    also blieb sie eine unabhängige Nation nach dem Fall des osmanischen Reichs.
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    Das ist eine Sache, an die man sich erinnern muss.
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    Sie teilten nicht den gleichen Antikolonialismushype,
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    den man in einigen anderen Laendern in der Region finden kann.
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    Zweitens, und am wichtigsten,
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    die Türkei wurde früher zu einer Demokratie
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    als die anderen Länder, über die wir sprechen.
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    1950 hatte die Türkei die ersten freien und gerechten Wahlen,
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    welche das autokratische, nichtreligiöse System beendeten,
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    welche der Beginn der Türkei waren.
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    Und die frommen Muslime in der Türkei sahen,
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    dass sie das politische System mit Wahlen ändern können.
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    Und sie realisierten, dass Demokratie etwas ist, das mit dem Islam vereinbar ist,
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    vereinbar mit ihren Werten,
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    und sie haben die Demokratie unterstützt.
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    Das ist eine Erfahrung,
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    die nicht jede muslimische Nation im Mittleren Osten
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    bis vor kurzem hatte.
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    Zweitens sehen wir in den letzten zwei Jahrzehnten,
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    dank der Globalisierung, dank der Marktwirtschaft,
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    dank des Aufstiegs der Mittelklasse,
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    in der Türkei etwas,
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    das ich als die Wiedergeburt des islamischen Modernismus bezeichne.
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    Nun gibt es die städtischen, frommen, Mittelklasse-Muslime,
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    die sich ihre Traditionen anschauen
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    und sehen, dass es in dieser Tradition einige Probleme gibt.
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    Und sie verstehen, dass sie geändert and hinterfragt und verbessert werden müssen.
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    Und sie schauen nach Europa,
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    und sie sehen wieder ein Beispiel zum Folgen.
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    Sie sehen zumindest ein Beispiel, zum Inspirieren lassen.
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    Deshalb wurde der EU Prozess,
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    die Bemühungen der Türkei, der EU beizutreten,
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    innerhalb der Türkei
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    von den frommen Muslimen unterstützt,
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    während einige nichtreligiöse Nationen dagegen waren.
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    Nun, dieser Vorgang wurde ein wenig getrübt
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    von der Tatsache, dass nicht alle Europäer sehr willkommen heißend sind -
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    aber das ist eine andere Debatte.
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    Aber das pro-EU Gefühl in der Türkei wurde in den letzten Jahrzehnten
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    fast zu einer islamischen Sache,
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    unterstützt von den islamischen Liberalen
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    und natürlich auch den weltlichen Liberalen.
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    Und Dank dessen
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    war die Türkei dazu in der Lage, eine Erfolgsgeschichte zu kreieren
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    in der der Islam und die meisten frommen Ansichten über Islam
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    Teil des demokratischen Spiels geworden sind,
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    und sogar zum demokratischen und wirtschaftlichen
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    Fortschritt des Landes beitragen.
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    Und das war ein sehr inspirierendes Beispiel
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    für einige islamische Bewegungen
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    oder einige Länder in der arabischen Welt.
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    Sie müssen alle den arabischen Frühling gesehen haben,
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    der in Tunis und Ägypten begann.
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    Und arabische Massen
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    rebellierten einfach gegen ihre Diktatoren.
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    Sie verlangten nach Demokratie; sie verlangten nach Freiheit.
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    Und sie entpuppten sich nicht als islamistischer Schreck,
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    den die Diktatoren immer benutzt haben,
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    um ihre Herrschaft zu rechtfertigen.
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    Sie sagten: "Wir wollen Freiheit, wir wollen Demokratie.
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    Wir sind muslimische Gläubige,
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    aber wir wollen als freie Leute in einer freien Gesellschaft leben.".
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    Selbstverständlich ist das ein langer Weg.
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    Demokratie erreicht man nicht über Nacht;
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    es ist ein Prozess.
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    Aber es ist eine vielversprechende Epoche
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    in der muslimischen Welt.
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    Und ich glaube dass der islamische Modernismus,
  • 16:19 - 16:21
    der im 19. Jahrhundert begonnen hat,
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    aber im 20. Jahrhundert einen Rückschlag erlitt,
  • 16:23 - 16:25
    wegen der politischen Probleme in der muslimischen Welt,
  • 16:25 - 16:27
    eine Wiedergeburt erlebt.
  • 16:27 - 16:30
    Und ich denke die "Moral" dessen
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    wäre, dass der Islam
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    trotz einiger Skeptiker im Westen,
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    in sich slebst das Potential hat,
  • 16:37 - 16:40
    seinen eigenen Weg zu Demokratie und Liberalismus zu schaffen,
  • 16:40 - 16:42
    seinen eigenen Weg zur Freiheit zu schaffen.
  • 16:42 - 16:44
    Sie sollten nur dafür arbeiten dürfen.
  • 16:44 - 16:46
    Vielen, vielen Dank.
  • 16:46 - 16:50
    (Applaus)
Title:
Mustafa Akyol: Glaube gegenüber Tradition im Islam
Speaker:
Mustafa Akyol
Description:

Bei TEDxWarwick spricht der Journalist Mustafa Akyol darüber, wie einige kulturelle Bräuche (z.B. das Tragen eines Kopftuches) im Allgemeinden mit den Glaubensartikeln des Islam in Verbindung gebracht werden. Konzentriert sich die allgemeine Vorstellung der Welt vom islamischem Glauben zu sehr auf Tradition und nicht genug auf den Kern des Glaubens?

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Video Language:
English
Team:
closed TED
Project:
TEDTalks
Duration:
16:51
Sophie Brand added a translation

German subtitles

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