Das ist mein Neffe Yuan Yuan. Er ist fünf Jahre alt und ganz reizend. Ich fragte ihn neulich: "Was wünschst du dir zum Geburtstag?" Er sagte: "Ich will eine einseitig verspiegelte Spider-Man-Maske." Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Ich sagte: "Das ist cool! Aber wie willst du sie bekommen?" Er sagte, ohne mit der Wimper zu zucken: "Ich sage es meiner Mutter und wünsche sie mir vor dem Einschlafen. Meine Mutter wird ihr Handy schütteln. Wenn ich am nächsten Morgen aufwache, wird sie der Paketbote vorbeibringen." Ich wollte ihn gerade necken, als ich plötzlich merkte, dass er einfach die Wahrheit sagte. Denn so kauft diese Generation ein. Für ein Kind wie Yuan Yuan ist Einkaufen etwas ganz anderes als für meine Generation. Man kauft per Smartphone und bezahlt online. Zurzeit erlebt China eine gewaltige Einkaufsrevolution. Einkaufsverhalten und Technologieplattformen entwickeln sich anders als im Rest der Welt. Zum Beispiel boomt in China der Internethandel. Er wächst doppelt so schnell wie in den USA. Das kommt vor allem durch die Handynutzung. Jeden Monat kaufen 500 Millionen Verbraucher mit dem Smartphone ein. Im Verhältnis: Das ist die gesamte Einwohnerzahl der USA, des Vereinigten Königreichs und Deutschlands zusammen. Aber es geht nicht nur um den Umfang des Internethandels, sondern auch um die schnelle Akzeptanz und die Konzentration der Ökosysteme. In weniger als fünf Jahren wurde China zu einem Land des digitalen Handels. Das liegt hauptsächlich an zwei Technologieplattformen, Alibaba und Tencent. Sie besitzen 90 % des Internethandels -- fast den gesamten Markt --, dazu 85 % der sozialen Medien und 85 % aller Online-Zahlsysteme. Sie besitzen auch große Mengen digitaler Inhalte: Videos, Filme, Literatur, Reiseinformationen, Spiele. Wenn diese Masse an Online-Käufern auf konzentrierte Ökosysteme trifft, gibt es chemische Reaktionen. China ist heute ein riesiges Labor, in dem Experimente aller Art stattfinden. Kommen Sie doch nach China, denn dort können Sie einen Blick in die Zukunft werfen. Einer der Trends betrifft die Spontaneität beim Shoppen. Vor fünf Jahren ergab eine Fashion-Studie, dass ein Chinese durchschnittlich fünf bis acht Paar Schuhe kauft. Diese Zahl verdreifachte sich auf 25 Paar Schuhe pro Jahr. Wer braucht so viele Schuhe? Also fragte ich nach. Man nannte mir eine Reihe von Gründen: Blogs, Promi-News, Modeinformationen ... Aber eigentlich gab es für viele keinen besonderen Grund. Sie surften einfach nur im Internet und kauften, was sie sahen. Diese Spontaneität finden wir überall, vom Lebensmitteleinkauf bis hin zu Versicherungen. Sie ist allerdings leicht zu verstehen. Viele chinesische Verbraucher sind neu in der Mittelschicht oder der oberen Mittelschicht. Sie wollen alles neu kaufen: neue Produkte, neue Dienstleistungen. Und bei diesem integrierten Ökosystem ist es so einfach einzukaufen: Man klickt einfach drauflos. Aber dieses neue Verhalten schafft viele neue Herausforderungen für die traditionellen Geschäfte. Der Eigentümer einer Modefirma erzählte mir frustriert, die Kunden klagten, seine Produkte seien nicht neu genug. Ein schlechter Kommentar für eine Modefirma. Dabei hatte er seine Produktpalette schon vergrößert. Offenbar ohne Erfolg. Also erklärte ich ihm, es gebe etwas Wichtigeres. Man müsse dem Kunden genau das bieten, was er will, solange er es noch will. Da kann er von den Internet-Modehändlern in China etwas lernen. Diese Unternehmen sammeln echtes Kundenfeedback auf mobilen Webseiten, und sozialen Netzwerken. Ihre Designer setzen diese Informationen in Produktideen um und senden sie zur Produktion an Mikroateliers. Die Ateliers sind der Schlüssel in diesem umfassenden Ökosystem, denn sie nehmen kleine Aufträge an, jeweils 30 Kleidungsstücke, und können teilweise auch individuelle Kundenwünsche erfüllen. Da die Fertigung vor Ort geschieht, dauert der gesamte Prozess vom Transport bis zum Endprodukt im Regal oder online manchmal nur drei oder vier Tage. Das ist extrem schnell. So kann man zügig auf die neuesten Trends reagieren. Das bereitet traditionellen Einzelhändlern enorme Kopfschmerzen, denn sie planen nur ein paar Kollektionen im Jahr. Außerdem wünschen die Kunden größtmöglichen Komfort. Vor einigen Monaten war ich mit einer Freundin in Tokio einkaufen. In einem Laden standen drei oder vier Leute vor uns an der Kasse. Ziemlich normal, oder? Aber wir ließen unsere Einkäufe liegen und gingen. So ungeduldig sind wir geworden. Dem Kunden großen Komfort zu bieten, ist kein nettes Extra, sondern wesentlich für sein Kaufverhalten. In China haben wir gelernt: Komfort ist der Klebstoff, der den Online-Kunden langfristig bindet. Das ist manchmal effektiver als nur ein Treueprogramm. Nehmen wir "Hema". Es ist ein von Alibaba entwickeltes Lebensmittel-Einzelhandelskonzept. Sie liefern einen vollen Warenkorb aus über 4.000 Artikeln innerhalb von 30 Minuten direkt an die Haustür. Erstaunlicherweise liefern sie buchstäblich alles: natürlich Obst und Gemüse, dazu auch lebende Fische und lebende Königskrabben. Ein Freund sagte einmal zu mir: "Da wird ein Traum wahr. Ich kann endlich meine Schwiegermutter beeindrucken, wenn sie unerwartet zum Abendessen kommt." (Lachen) Unternehmen wie Amazon und FreshDirect experimentieren auch in diesem Bereich. Hema gehört zu Alibabas Ökosystem, daher ist es schneller und leichter einsetzbar. Für einen Online-Lebensmittelhändler ist es sehr schwierig und teuer, schnell einen vollen Warenkorb zu liefern. Doch Hema hat eine App, und digitale Bezahlung. Außerdem wurden in urbanen Ballungsräumen in Shanghai 20 Geschäfte gebaut. Diese Geschäfte garantieren die Frische der Produkte -- es gibt dort sogar Aquarien -- und ermöglichen durch ihre Lage sehr schnelle Lieferungen. Ich weiß, was Sie sich gerade fragen: Verdienen sie Geld? Ja -- sie arbeiten ohne Verlust. Erstaunlicherweise sind die Umsatzerlöse pro Geschäft drei- bis viermal so hoch wie bei gängigen Lebensmittelläden und die Hälfte der Aufträge kommt von Smartphones. Das beweist: Wenn man Kunden beim Einkaufen von Lebensmitteln echten Komfort bietet, dann verlagern sie ihr Kaufverhalten sofort ins Internet. Doch großer Komfort und Spontaneität sind noch nicht alles. Der andere Trend in China ist Social Shopping. In der übrigen Welt ist Social Shopping ein linearer Prozess. Man findet etwas auf Facebook, sieht es sich an und beendet dann die Einkaufstour bei Amazon oder brand.com. Schlicht und einfach. Doch in China ist das ganz anders. Durchschnittlich kaufen Verbraucher eine Stunde lang mit dem Handy ein -- dreimal länger als in den USA. Warum diese lange Zeit? Was machen sie eigentlich auf dem winzigen Bildschirm? Begleiten Sie mich auf eine ganz normale Einkaufstour. 11 Uhr abends -- da kaufe ich oft ein. Ich chattete gerade mit meinen Freunden in einer WeChat-Gruppe. Einer von ihnen nahm eine Snackpackung und postete den Produktlink in die Gruppe. Ich hasse das, da ich normalerweise draufklicke und auf der Produktseite lande. Viele Informationen, viele Farben, unglaublich. Schon war ein Verkäufer online und fragte: "Was kann ich heute Abend für Sie tun?" Natürlich kaufte ich den Snack. Noch besser: Ich weiß, dass dieser Snack am nächsten Mittag in mein Büro geliefert wird. Ich kann ihn essen und mit Kollegen teilen. Die Lieferung kostet höchstens einen Dollar. Als ich die Produktseite gerade verlassen wollte, öffnete sich das nächste Fenster: dieses Mal der Livestream einer Prominenten, die mir eine neue Lippenstiftfarbe vorführte. Ich schaute 30 Sekunden zu -- sehr leicht zu verstehen -- und daneben war gleich wieder ein Produktlink. Angeklickt und gekauft -- in wenigen Sekunden. Zurück in den Chatroom. Der Klatsch und Tratsch ging weiter. Ein anderer Freund postete den QR-Code eines anderen Snacks. Angeklickt, gekauft. All das ist wie eine Entdeckungstour in einem Freizeitpark. Es ist chaotisch, es macht Spaß und sogar ein bisschen süchtig. Das passiert in so einem integrierten Ökosystem: Einkaufen ist ins Sozialleben integriert und das Sozialleben wird zum multidimensionalen Erlebnis. Die Integration der Ökosysteme erreicht ein ganz neues Niveau; genauso wie deren Dominanz in allen Bereichen unseres Lebens. Natürlich stecken gewaltige wirtschaftliche Chancen dahinter. Die chinesische Snack-Firma "Three Squirrels" schuf in drei Jahren einen Betrieb im Wert von einer halben Milliarde Dollar, indem sie in 300 bis 500 Verkäufer investierte, die sieben Tage die Woche Tag und Nacht online sind. In den sozialen Netzwerken sind sie quasi Ihre Freunde von nebenan. Selbst wenn Sie nichts kaufen, bringen sie Sie mit ein paar Witzen zum Lachen. In diesem integrierten Ökosystem können soziale Medien die Beziehung zwischen Marke, Händler und Verbraucher neu definieren. Das sind nur kleine Details der massiven Veränderungen, die ich in China gesehen habe. In diesem riesigen Labor werden tagtäglich viele Experimente entwickelt. Die Ökosysteme bilden sich um -- dasselbe gilt für Vertriebswege, Marketing, Produktinnovation, einfach alles. Die Verbraucher haben die Macht, zu bestimmen, was sie kaufen wollen, wann und wie sie es kaufen wollen und in welchem sozialen Rahmen. Es liegt nun an den Wirtschaftsbossen der Welt, die Augen zu öffnen und zu sehen, was in China passiert, darüber nachzudenken und zu handeln. Danke. (Applaus) Massimo Portincaso: Angela, was du uns berichtet hast, ist beeindruckend und fast unglaublich. Viele im Publikum stellen sich die gleiche Frage wie ich. Sie lautet: Ist dieser impulsive Konsum wirtschaftlich und ökologisch langfristig von Dauer? Und wie hoch ist der Gesamtpreis für so ein automatisiertes und komfortables Einkaufserlebnis? Angela Wang: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir erst am Anfang einer großen Umgestaltung stehen. Mit diesen anspruchsvolleren Kundenbedürfnissen und der Entwicklung der Ökosysteme eröffnen sich viele Möglichkeiten und auch Herausforderungen. Ich sehe frühe Anzeichen dafür, dass die Ökosysteme ihren Fokus neu ausrichten, um diese Herausforderungen zu meistern. Zum Beispiel mehr Rücksicht auf Nachhaltigkeit, dazu Geschwindigkeit und Qualität vor Quantität. Es gibt auf diese Fragen keine einfachen Antworten. Deswegen bin ich hier, um allen zu sagen, dass wir diese Entwicklung beobachten, untersuchen und mitgestalten müssen. MP: Vielen Dank! AW: Dankeschön. (Applaus)