0:00:05.433,0:00:07.339 Tatort... 0:00:07.339,0:00:11.091 ... Kunst 0:00:11.091,0:00:13.461 Der Mond, 0:00:13.461,0:00:16.062 eine Kirche, 0:00:16.062,0:00:20.510 eine Zypresse. 0:00:20.510,0:00:24.192 Ein Gemälde von [br]Vincent van Gogh. 0:00:24.192,0:00:28.845 Eine stille ländliche Nacht? 0:00:28.845,0:00:29.659 Aber 0:00:29.659,0:00:38.167 dieser entfesselte Himmel mit seinen [br]verzerrten Sternen lässt keine Stille zu. 0:00:38.167,0:00:42.161 Van Gogh hat diese Nacht gemalt während seiner [br]Internierung in einer psychiatrischen Anstalt, 0:00:42.161,0:00:45.982 ein Jahr vor [br]seinem Selbstmord. 0:00:45.982,0:00:50.026 Aufschrei eines verfrühten Genies, [br]das seiner Zeit zu weit voraus war? 0:00:50.026,0:00:54.295 Während seine Zeitgenossen sich für [br]die Lichter der Stadt begeistern, 0:00:54.295,0:00:59.135 flieht Van Gogh aus Paris und gibt uns [br]gestressten Städtern ein ideales Bild: 0:00:59.135,0:01:02.196 Entfliehen wir auf den Schwingen [br]der künstlerischen Fantasie! (ironisch) 0:01:02.196,0:01:06.576 Und lasst uns das friedliche Glück des [br]Landlebens wiederentdecken! (ironisch) 0:01:06.576,0:01:16.014 Dient der entfesselte Himmel nur als [br]Maske für eine reaktionäre Vision? 0:01:20.037,0:01:26.547 Van Gogh: Sternennacht – die verklärte Nacht 0:01:26.547,0:01:29.802 Teil 1: eine kalkulierte Verrücktheit 0:01:29.802,0:01:33.058 Ist dieses Bild vielleicht eine [br]spontane Äußerung von Demenz? 0:01:33.058,0:01:35.704 Hüten wir uns lieber vor [br]voreiligen Schlüssen: 0:01:35.704,0:01:43.404 Van Gogh malt seine Nacht im Jahre 1889, zu einer [br]Zeit als die Amateurastronomie durch eine neue [br]Technik beliebt wurde, 0:01:43.404,0:01:48.811 da es nun erste [br]Fotoaufnahmen vom Himmel gab. 0:01:48.811,0:01:52.413 Diese Spirale ist also durch[br]echte Verschleierungen inspiriert: 0:01:52.413,0:01:56.820 Die Venus vollendete gerade ihren Zyklus [br]und schien besonders hell in jenem Jahr 0:01:56.820,0:02:00.325 und der Mond entspricht genau dem, den der [br]Maler von seiner Zelle aus beobachten konnte, 0:02:00.325,0:02:05.038 im Morgengrauen des 25. Mai 1889. 0:02:05.038,0:02:09.162 Wobei Van Gogh von seinem Fenster aus aber [br]lediglich ein eingezäuntes Grundstück sah. 0:02:09.162,0:02:11.878 Also komponiert er [br]eine Fantasielandschaft, 0:02:11.878,0:02:15.146 in der er eine Zypresse und [br]den Turm der Dorfkirche hinzufügt, 0:02:15.146,0:02:17.894 um Räumlichkeit herzustellen 0:02:17.894,0:02:21.677 und dem Bildaufbau [br]Struktur zu verleihen. 0:02:21.677,0:02:27.341 Und sogar die turbulente Spirale trägt dazu [br]bei, den Fluchtpunkt im Lot zu lokalisieren. 0:02:27.341,0:02:29.675 Wenn die Verrücktheit nicht [br]in der Komposition liegt, 0:02:29.675,0:02:36.145 liegt sie dann etwa im [br]so brutalen, so wirren Strich? 0:02:36.145,0:02:42.341 In seiner Eile nimmt sich Van Gogh nicht einmal [br]die Zeit, die ganze Leinwand zu bemalen. 0:02:42.341,0:02:47.259 Eigentlich verstärkt der Strich die Gegensätzlichkeit [br]zwischen den beiden Teilen des Gemäldes. 0:02:47.259,0:02:54.145 Unten wird jedes Haus von einem schwarzen [br]Strich umringt, wie ein Kirchenfenster, 0:02:54.145,0:02:59.440 und die Bäume werden wie [br]dicke Wollknäuel behandelt. 0:02:59.440,0:03:03.030 Die Erde ist so fest wie [br]das Produkt eines Handwerkers. 0:03:03.030,0:03:08.662 Der Himmel hingegen ist so [br]flüssig wie ein Fischschwarm. 0:03:08.662,0:03:14.542 Das Licht der Sterne verbreitet [br]sich wellenförmig, konzentrisch. 0:03:14.542,0:03:20.038 Die Unruhe des Bildes ist eher kalkuliert als spontan, [br]mit der Gegenüberstellung der beiden Kräfte: 0:03:20.038,0:03:22.891 die Kraft der festen [br]und greifbaren Erde 0:03:22.891,0:03:26.808 und die Kraft des dynamischen [br]und wiegenden Himmels. 0:03:26.808,0:03:34.421 Diese Zypresse, hart wie Asphalt und flink wie eine [br]Flamme, stellt eine Brücke zwischen den beiden dar. 0:03:34.421,0:03:38.421 Warum bringt Van Gogh eine [br]stille Nacht völlig durcheinander? 0:03:43.871,0:03:44.663 Teil 2 : Gefährliche Nacht oder religiöse Nacht ? 0:03:44.663,0:03:45.455 Bevor er die Nacht als 0:03:45.455,0:03:46.671 einen Sternenhimmel betrachtet, 0:03:46.671,0:03:52.370 interessiert sich Van Gogh für sie als diesen Moment [br]der Ruhe, in dem die Menschen von der Arbeit befreit sind. 0:03:52.370,0:04:00.884 Welch ein Kontrast zu den Avant-Garde-Malern, die die Bewegung und Lichter der städtischen Freizeit verherrlichen! 0:04:00.884,0:04:03.790 Bei Van Gogh kehren [br]sich die Verhältnisse um: 0:04:03.790,0:04:07.221 Das düstere Essen der Bauern [br]wird würdevoll dargestellt, 0:04:07.221,0:04:11.318 während die funkelnde Stadt [br]Benommenheit verursacht. 0:04:11.318,0:04:13.769 Diese Mahlzeit, die auf den ersten [br]Blick traurig und brutal erscheint, 0:04:13.769,0:04:18.306 bei der sich angeschaut [br]und kommuniziert wird, 0:04:18.306,0:04:23.272 unter einem einzigen tröstenden Licht, verherrlicht [br]die nach der Anstrengung verdiente Ruhe. 0:04:23.272,0:04:29.506 Die Familie ist zusammen geschweißt, wie diese Häuschen um einen einzigen Kirchturm, Sinnbild des christlichen Glaubens, versammelt sind. 0:04:29.506,0:04:34.252 Diese Verehrung der bäuerlichen [br]Würde erfindet Van Gogh nicht: 0:04:34.252,0:04:37.591 Er übernimmt sie von Jean-François [br]Millet, den er bewundert. 0:04:37.591,0:04:43.551 Im „Angelusgebet“ war der Abend schon ein Moment [br]des Eifers und der Kommunion mit der Erde. 0:04:43.551,0:04:48.290 Im Gegensatz dazu erfindet Van Gogh eine [br]Darstellung der Stadt, die fast teuflisch wirkt. 0:04:48.290,0:04:57.273 Im Ballsaal in Arles hat eine Vielzahl von trüben [br]Lichtern das gemeinsame Licht ersetzt. 0:04:57.273,0:05:04.874 Jeder Tänzer scheint verwirrt, mitten in [br]einer chaotischen und hysterischen Menge. 0:05:04.874,0:05:09.809 In diesem die ganze Nacht offenen [br]Kaffeehaus herrscht eine Katerstimmung. 0:05:09.809,0:05:15.618 Die Komplementärfarben rot und grün [br]schaffen eine säuerliche Stimmung, 0:05:15.618,0:05:18.854 ein Billardtisch hat den [br]tugendhaften Familientisch ersetzt. 0:05:18.854,0:05:23.256 Die brennende Spielleidenschaft hat die Kräfte [br]und die menschlischen Bindungen zerstört. 0:05:23.256,0:05:29.703 In die vier Ecken des Billardtisches verstoßen, landen die Alkoholiker hier, wie Nachtfalter gefangen 0:05:29.703,0:05:34.310 von drei falschen brennenden [br]und explosiven Sonnen. 0:05:34.310,0:05:40.742 In seinen Bildern scheint Van Gogh die Technik der japanischen Grafik einzusetzen, um die Verlogenheit [br]des modernen Lebens zu zeigen: 0:05:40.742,0:05:45.057 Emotionale Gewalt [br]der schwarzen Ringe, 0:05:45.057,0:05:48.590 brutale Zusammenstellungen [br]verschiedener Ebenen, 0:05:48.590,0:05:54.368 lodernder Kontrast [br]der Komplementärfarben 0:05:54.368,0:06:04.726 zum hellen Schein und zur verlogenen Helligkeit der Stadt. Es ist Zeit für Van Gogh, sich der Ordnung [br]und der Ewigkeit des Sternenhimmels [br]entgegenzustellen. 0:06:04.726,0:06:07.920 Das Spiel ist aber [br]bei weitem nicht gewonnen. 0:06:07.920,0:06:10.356 Trotz eines stark [br]gemalten Himmels 0:06:10.356,0:06:13.032 sind die Sterne schließlich [br]recht blass und farblos 0:06:13.032,0:06:17.893 im Gegensatz zum säuerlichen Glanz [br]der im Wasser spiegelnden Straßenlaterne. 0:06:17.893,0:06:21.854 Van Gogh entdeckt das Phänomen [br]der „Lichtverschmutzung“: 0:06:21.854,0:06:25.168 Die künstlichen Lichter hindern [br]uns daran, die Sterne zu sehen, 0:06:25.168,0:06:33.308 und strömen sogar in die Umgebung der Städte, so [br]wie die Straßenlaterne, die ankündigt, dass ein Stück [br]Land noch geschluckt wird, 0:06:33.308,0:06:41.985 so wie die Installierung dieses Satelliten der NASA, [br]was über ein Jahrhundert später geschieht, [br]setzt die Erde eine Sternenhimmelmiene auf. 0:06:41.985,0:06:46.559 Für seinen zweiten Versuch verlässt Van Gogh [br]Arles, um sich in ein Dorf zu flüchten, 0:06:46.559,0:06:50.674 und ändert völlig [br]seine Strichtechnik. 0:06:50.674,0:06:54.620 Die Erde nimmt die solide [br]unveränderbare Art des Himmels an, 0:06:54.620,0:06:58.742 während der Sternenhimmel 0:06:58.742,0:07:04.609 die sauere Explosivität und wellenartige Dynamik [br]der modernen künstlichen Lichter übernimmt. 0:07:04.609,0:07:10.887 Das Resultat ist spektakulär, aber sehr übertrieben: [br]Wir tauchen wieder in die ausufernde Verrücktheit [br]ein! 0:07:10.887,0:07:15.117 Wieso hat Van Gogh den Himmel [br]so exaltiert dargestellt? 0:07:15.117,0:07:19.117 Und ist es sehr schlimm, [br]die Sterne zu vergessen? 0:07:22.929,0:07:25.780 Teil 3: Die Nacht schlägt zurück 0:07:25.780,0:07:28.632 Abgesehen von Van Gogh ist der Sternenhimmel [br]schon in zweierlei Hinsicht faszinierend: 0:07:28.632,0:07:31.145 Schönheit und Größe. 0:07:31.145,0:07:39.496 Das allgemeine Erleben des Himmels entspricht dem [br]einer großen Kuppel, schön, weil sie mit Ordnung [br]und Perfektion gleichbedeutend ist. 0:07:39.496,0:07:42.277 Aus der Distanz scheinen die [br]leuchtenden, ewigen Sterne fern 0:07:42.277,0:07:47.417 von unserer hektischen Erde zu sein, [br]wo sich alles ändert und wandelt! 0:07:47.417,0:07:54.840 Auch wenn dieser weltfremde Eindruck keiner [br]physikalischen Erkenntnis mehr entspricht, als [br]dichterisches Streben nach Perfektion [br]bleibt er dennoch bestehen. 0:07:54.840,0:08:01.694 Van Gogh sieht im Sternenhimmel eine [br]geographische Karte und im Tod ein Raumschiff. 0:08:01.694,0:08:09.081 Die Sterne lassen mich genauso träumen wie die schwarzen Punkte auf der Karte, die Städte und Dörfer symbolisieren. 0:08:09.081,0:08:14.674 Mir scheint es nicht unmöglich, dass Cholera und [br]Krebs Formen eines himmlischen Gefährts sind, 0:08:14.674,0:08:21.913 wie die Dampfschiffe, Busse und [br]Eisenbahnen jene Gefährte der Erde sind. 0:08:21.913,0:08:25.415 Seine beiden Nächte [br]entspringen dieser Vision: 0:08:25.415,0:08:35.594 Die erste, wo der Himmel einem stabilen götllichen [br]Mauerwerk ähnlich ist, und die Sterne ihrer antiken Schematisierung. 0:08:35.594,0:08:44.761 Und die zweite, wo die Zypresse, der Friedhofsbaum, [br]diesen Tod heraufbeschwört, der uns erlaubt, von [br]der Erde bis zum himmlischen Licht zu reisen. 0:08:44.761,0:08:51.513 Aber sie entspringt auch einer moderneren Kenntnis [br]des Himmels, diesmal an das Gefühl des Unendlichen [br]und der Maßlosigkeit gebunden. 0:08:51.513,0:08:59.080 In der Musik knüpft diese Kulisse für die „Zauberflöte“ von Mozart immer an das [br]Himmelszelt an. 0:08:59.080,0:09:04.617 Aber das Crescendo der Nachtkönigin erzeugt das [br]Zittern des Erhabenen, das nicht mehr von der [br]Ordnung ausgeht, sondern 0:09:04.617,0:09:12.199 vom Gefühl unserer Kleinheit [br]gegenüber maßlosen Phänomenen. 0:09:12.199,0:09:25.047 Und in der Architektur konzipiert Etienne-Louis Boullée ein gigantisches, durchlöchertes Grabmal, 0:09:25.047,0:09:27.955 um das Licht der Sterne nachzuahmen und die [br]Menschen auf die Größe von Ameisen zu [br]schrumpfen. 0:09:27.955,0:09:30.864 Mit der zweiten Nacht sucht auch [br]Van Gogh nach dem Weg der Maßlosigkeit. 0:09:30.864,0:09:35.179 Er führt in seinem Himmel etwas ein, [br]was die Maler gut begreifen können: 0:09:35.179,0:09:38.212 Die Kraft der Eruptionen, 0:09:38.212,0:09:40.814 der Lawinen, 0:09:40.814,0:09:43.758 und der Fluten. 0:09:43.758,0:09:50.214 Aber diesmal geht es nicht darum, die Wissenschaft gegenüber der Vorstellungskraft zu preisen, sondern [br]die Fähigkeiten unseres Willens. 0:09:50.214,0:09:55.594 Denn unser Wille kann auch standhaft dem [br]gegenüber bleiben, was ihn zerstören kann. 0:09:55.594,0:10:04.609 Das ist das Prinzip des „dynamischen Erhabenseins“: [br]Um zu funktionieren, braucht man kleine eigensinnige Persönlichkeiten, die sich der Kraft der Elemente entgegenstellen. 0:10:04.609,0:10:12.780 Im 17. Jahrhundert spielt die stabile Kathedrale von [br]Toledo unter einem gewittrigen Himmel diese Orientierungsrolle. 0:10:12.780,0:10:21.129 Van Gogh transponiert diese Kräfte direkt in den [br]Himmel über dem stolzen Kirchturm von Saint-Rémy. 0:10:21.129,0:10:28.860 Die angebliche Verrückteit der Sternennacht ist also [br]genau kalkuliert! Das banale Dorf in der Provence [br]wird zum Mythos: 0:10:28.860,0:10:32.860 der eines erhabenen Orientierungspunktes [br]gegenüber den Erschütterungen der Modernität. 9:59:59.000,9:59:59.000 Danksagung: Deutsche Untertitel [br]Martin Peter, Electra und Nadine Hennig